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 GÓRNY ¦L¡SK - OBERSCHLESIEN

 

Nr. 5 / 12.2002

Silesia Superior 5 / 12.2002

Lech "Lele" Przychodzki

Menschliche Tragödien

„... Ideologien vergehen, aber die Lüge bleibt und festigt sich im Bewußtsein der Allgemeinheit“
Ewald Pollok

Wenn ich ein Buch in die Hand nehme, dass sich mit irgendeiner nationalen Minderheit beschäftigt -in Polen, Spanien oder auch anderswo - dann befällt mich Angst. Reicht mein wissen aus, um Nationalismus von Humanismus zu unterscheiden? Oder ließ sich nicht der Autor von Emotionen hinreißen, in dem er den Lesern eine gefilterte, halbwahre Version der Geschichte darbietet? Kann ich wirklich einen psychischen Kontakt mit jemanden aufnehmen, der mir kulturell scheinbar nahe steht, aber vielleicht nicht nahe genug? Zumindest beim Beginn der Lektüre.

So war es auch diesmal, obwohl meine weisen Eltern mir eine Kardinale Wahrheit vermachten: Ich wette Kopf und Kragen, wenn mir jemand in den heutigen Grenzen der III. Republik einen Polen aus Haut und Knochen seit 6-7 Generationen zeigt. Ich bin kein Schlesier, ich bin Pole, wenngleich meine Vorfahren sowohl aus Wien als auch aus Wilna und Luck nach Kongrsspolen kamen. (Es gab auch welche, die in die Gebiete zwischen Bug und Oder erst nach 1945 kamen). Meine nationale Position läßt sich wohl am zutreffendsten als polnisch-litauisch definieren. Dies, um dem Leser zu erklären, von welchem Standpunkt aus, ich das angewachsene Problem Schlesien und das Buch von Ewald Stefan Pollok „Schlesische Tragödien“ betrachte.

Jalta und Potsdam legten für Europa eine neue Ordnung fest, oder - besser gesagt - zwangen sie auf. Zum größten Teil unfreiwillig, mußten Millionen Menschen Abschied nehmen von ihren eigenen Wurzeln, vom Geburtsort, den Grabstätten und dem geistigen Erbe der Vorfahren. Die polnische Regierung, von der Sowjetunion in Lublin eingesetzt, stand vor der einmaligen Gelegenheit, an der Weichsel ein „ethnisches Wunder“ zu schaffen. Die meisten Juden und Roma sind im II. Weltkrieg umgekommen. Mit Hilfe des Großen Bruders fand die „Umsiedlungsaktion“ der Ukrainer, Bojken und Lemken statt. Die Polesier Weißrussen und Litauer wurden eingeschüchtert. Die Masuren und Kaschuben werden zu Kernpolen erklärt, die über Jahrhunderte unterdrückt waren (was später Gomulka nicht davon abhielt, sie zu Ausreise zu zwingen). Es blieben also die Deutschen.

Die Deutschen, denn für einen durchschnittlichen Ansiedler - einen Umgesiedelten von östlich des Bugs - existierte das Problem „Schlesien“ gewöhnlich nicht. Ähnlich verhielten sich die Milizianten bzw. die Funktionäre sowohl des eigenen als auch des sowjetischen Geheimdienstes bei der Einführung der „Volksmacht“. Wer polnisch Sprach - war Pole; sprach man deutsch - war man Deutscher. Grundsätzlich nahm man die Zwei- und im Oppelner Schlesien gar die Dreisprachigkeit vieler Familien nicht zu Kenntnis. Mit einem Zitat des Vorsitzenden des PKWN (polnisches Komitee der Nationalen Befreiung) Edward Osobka Morawski illustriert Pollok hervorragend diese Denkweise. “Bei der Übernahme von Ostpreußen wollen wir dort keine Minderheit haben. Wir hoffen daß die Rote Armee vorher alle erwachsenen Deutschen zur Arbeit beim Wiederaufbau Rußland schickt, so, dass wir dort niemanden mehr vorfinden“ (Seite 15).

In Schlesien ließ sich das nicht so durchführen. Es ist leicht zu erkennen, welche Kriterien die neuen Machthaber bei der Umsiedlung angewandt haben. Neben einer pro- polnischen bzw. pro- deutschen Option (eine andere Möglichkeit räumte man nicht ein) spielten Informanten wohlgesinnte Denunzianten, Religion (ebenfalls eine Quelle tragischer „Fehler“) oder Vermögensverhältnisse eine Rolle. Die Reicheren hatten Chancen als ausreisewürdig zu gelten - das verwüstete Land brauchte Geld. Und wenn man keine eigenen Zlotys hat - ist es nun einfacher nach fremden zu greifen. Alles im Rahmen des „Ausgleichs geschichtlichen Unrechts, des Wiederaufbaus der Hauptstadt, der „Verstaatlichung“.

Aus dem Blickpunkt von Lublin, später aus Warschau und Lodz (wo die Regierungsbehörden residierte) hat man nicht mitbekommen, dass jene Menschen, die die zerstörten Hütten, Gruben und Fabriken spontan wieder in Stand setzten, polnisch, deutsch oder schlesisch sprachen. Die Klassifizierung in bessere und schlechtere Volksgenossen schaffte in der Region mehr Übel als alle drei Aufstände zusammen.

Darüber hinaus werden die Schlesisch - und Deutsch Sprechenden als Sündenböcke für die Verbrechen des III. Reiches behandelt. Abermals der Autor: Die Rache für die Hitler-Verbrechen traf vorwiegend unschuldige Menschen, denn die wahren Nazis waren längst geflüchtet (S.45). Dabei kamen nach Schlesien, besonders nach Niederschlesien, andere Umsiedler - solche, den es gelungen ist zu entkommen, und zwar aus der Sowjetunion, die sich damals doch auf Kosten der untergegangenen II. Polnischen Republik vergrößert hat. Es waren Menschen, die allen Anlaß hatten sich zu rächen. Nur an wem? In ihren Köpfen war die Überzeugung von der allgemeinen Schuld und der gemeinsamen Verantwortung aller Deutschen tief verankert“ (S. 15). „Die Polen suchten einen Feind, weil´s jedoch der „Bruder“ östlich des Bugs nicht sein durfte, richteten sie all´ ihre Abneigung nach Westen“ (S. 36).

Diese Unwahrheit und Ungerechtigkeit vertieften jahrelang die Historiker. Um dem „wissenschaftlichen Kommunismus (Sozialismus?) gerecht zu werden behauptete man dass die frühere, durchaus slawische Bevölkerung Schlesiens über Jahrhunderte germanisiert wurde. Und nach 1918 wurde ein Teil der Region vom „preußischen Joch“ befreit. Dagegen: „Der Begriff der ethnischen Einheitlichkeit der angestammten Bevölkerung kann auf Schlesien nicht angewandt werden. Schlesien war ein Land, dass von verschiedenen Stämmen, Sippen und Völkern durchwandert wurde, und deshalb nicht einheitlich sein konnte“ (S. 153). Kein Historiker, der auf sein Ansehen bedacht ist, würde gegenwärtig schreiben, dass Biskupin als Überrest einer slawischen Siedlung anzusehen ist. Es ist zu bedauern, dass viele angesehene Historiker an der Schwelle des XXI Jh. nach wie vor Lügen und Mythen über Schlesien verbreiten.

Pro publico bono (Für´s allgemeine Wohl) käufliche Gelehrte (die von der Weichsel stammende Intelligenz pflegt es komischer Weise sich selbst als materielles Gut zu betrachten, nicht jedoch die Erzeugnisse ihres geistigen Schaffens) haben es so weit gebracht, dass „die Polen Unrecht und Leid das ihnen die Russen zugefügt haben verstehen können. Aber es fällt ihnen schwer zu begreifen, dass sie selber auch den Schlesiern Unrecht und Schmerz angetan haben“ (S. 190) „Haben wir hier mit einer Doppelmoral zu tun?“ - fragt der Autor der „Schlesischen Tragödien“. Vermutlich ja, denn die Kali-Mentalität aus Sienkiewicz Jugendroman war bislang die offizielle Auslegung der - dank sowjetischer Einwilligung - regierenden Eliten Polens.

Von der „neuen“, bereits III. polnischen Republik haben wir das Recht mehr zu verlangen. Sowohl die betroffenen Schlesier, als auch diejenigen Polen, die der Wahrheit in die Augen schauen sollten. Aber es passiert nicht viel. Bis heute wird in den Augen der Polen, das Plebiszit wie ein falsches Kartenspiel von der deutschen Seite eingefädelt, wie ein Kartenspiel mit gezinkten Karten betrachtet, die Aufstände wurden als eine eigenständige Erhebung der Oberschlesier mit einer „freiwilligen“ Unterstützung des polnischen Heeres gesehen und die nach dem I. Weltkrieg, höllischen Lager für die deutsche Bevölkerung stellte man (wenn überhaupt) als einen „seltsamen Arbeitsunfall“ dar. Nicht ohne Grund erinnert Ewald Stefan Pollok (denn, leider, erinnern muß er ständig), dass eigentlich die polnische Delegation, unter der Leitung von Romer auf der Konferenz in Paris vorgeschlagen hat, dass das Wahlrecht auch schlesischen Emigranten, die zeitweilig außerhalb Schlesiens wohnten zugestanden werden sollte, ohne Rücksicht auf die Sprache und nationale Zugehörigkeit. Man erhoffte sich dadurch einen größeren Stimmenanteil für Polen (S. 225).

Angesichts der dargestellten Tatsachen platzt auch der Mythos vom polnischen St. Annaberg und der Kämpfe um ihn - „Au dem Berg selbst gab es keinerlei Kämpfe. Die Aufständischen entnahmen in der Nacht zum 2/3 Mai Waffen vom Waldchof (ein abgelegener Gutshof) und gingen den St. Annaberg „erobern“. Damit hatten sie auch keine Probleme, denn dort gab es keine Selbstschutzeinheiten, sondern nur 2 Polizisten, die sich kampflos ergaben“ (S. 198) und weiter: „In der Nacht zum 2/3 Mai als der Aufstand schon ausbrach, fand gerade der Ablaß - Auffindung des Heiligen Kreuzes statt. Zahlreiche Pilger versammelten sich am Berge. Als sie jedoch gemerkt haben, was dort los ist, haben sie bereits in den Morgenstunden eiligst die Kirche und Kavallerie verlassen. Keiner der einheimischen Gläubigen war bereit am Aufstand teilzunehmen, obwohl doch die Gelegenheit dazu sich anbot „(S. 198).

Ähnlich verhält sich die Sache mit dem freien Abhalten von Gottesdiensten in deutsch und polnisch. „Die deutsche Regierung hat im Juli 1939 in polnischer Sprache Messen verboten. Das dauerte 6 Jahre lang. Dagegen hat die Regierung Volkspolens über 44 Jahre deutsche Gottesdienste in keiner einzigen Kirche im Oppelner Schlesien gestattet“ (S. 221). Als Beispiel für ein vernünftiges Verhalten kann man die Anordnung des Breslauer Kardinals A. Bertram aufführen, der das Abhalten von Gottesdiensten in der Sprache der pfarrgemeindlichen Mehrheit - in deutsch, polnisch oder tschechisch verlangte. Seine Hirtenbriefe erschienen immer in deutsch und polnisch. Man verlas sie je nach Bedürfnis der Gläubigen. Als gebürtiger Deutscher wagte er in einem Brief an den damaligen Gauleiter Schlesiens, Josef Wagner, dem Wunsch zu verlangen, dass „...die Beibehaltung der polnischen Sprache neben der deutschen im Gottesdienst notwendig ist“ (S. 289).

Heute verhält sich ähnlich Bischof Nossol, der der Ansicht ist, dass seine Gläubigen in der Kirche in der Sprache ihres Herzens beten sollen. „Als Seelsorger wollen wir nie der Völkerapostel für alle alles sein“ (S. 217).

Das Arbeitspensum, das Ewald Stefan Pollok in sein Buch einbrachte, kann man nicht hoch genug schätzen. Die direkten Zeugenaussagen (besonders die Kapitel „Schlesische Tragödie“ und “Hinter Lagerzäunen der Nachkriegszeit - Lamsdorf“), die Dokumentation („Schlesische Aufstände?“ oder „Die Probleme der Seelsorge für die Minderheiten im polnischen Oberschlesien in der Zwischenkriegszeit“) und vor allem die sachliche Polemik und die Demystifikation immer noch vorhandener und für die Törigkeit - propolnischer Mythen (wenn schon die Schlesier polnische Forscher ernst nehmen sollen, dann bräuchten diese einfach nur die Wahrheit darzustellen) - werden nicht von allen meinen Landsleuten sachlich aufgenommen, und zwar ohne unnötige Emotionen.

Die Legende wirkt immer noch weiter. Die Figuren, die in den Kapiteln „Rektor“ und “Geschichtsfälschung“ dargestellt wurden, haben`s nicht eilig um von der wissenschaftlichen Bühne zu verschwinden. Bei Historikern aus Zentralpolen muß man sich nicht wundern aber bei denen, die Schlesien - als ihren Wohnsitz haben - eigentlich schon. Offenbar fühlen sie sich dort noch nicht ganz „daheim“, „denn das gemeinsame wohnen bedeutet auch, den anderen zu akzeptieren“ (S. 161). Und gerade diese Akzeptanz sieht man in den Arbeiten der von Ewald Stefan Pollok angeführten „Autoritäten“ nicht.

Um diesen Zustand zu ändern müßten gleichzeitig zwei Bedingungen erfüllt werden: Zeitlicher Abstand und die Abschaffung von Lügen. Die „Schlesischen Tragödien“ erfüllen die zweite Bedingung hervorragend. Es bleibt abzuwarten, ob es auch mutige Pädagogen geben wird, die dieses Buch älteren Schülern (oder auch vielleicht dessen Eltern?) empfehlen werden. Denn wenn man die Ursachen des Bösen verstehen will, muss man das Böse erst erkennen. Andernfalls wird die auf S. 226 erwähnte Kunststück noch in 50 Jahren gelten: „Hitler und seine Helfer haben das Volk 12 Jahre lang betrogen und bis heute meinen noch Einige, er hätte die Wahrheit gesagt. Die VR Polen und ihre Helfer: Schriftsteller, Wissenschaftler, die Presse, haben das Volk 45 Jahre lang betrogen (manche tun es noch heute). Deshalb werden noch viele Jahre vergehen, bis die Menschen zu Erkenntnis kommen, dass sie in den Händen von Politikern und Gelehrten zu Marionetten gemacht worden sind“.

Als ich vor kurzem einem Bekannten Historiker das Buch „Schlesische Tragödien“ zeigte, sagte er: „Weißt du, dieser Mann baut eine neue Mauer“. Sooo? Nach meiner Meinung ist es umgekehrt: wir brauchen noch viele solche Bücher, damit die künstliche, vor den Köpfen und Herzen der Menschen aufgebaute Barriere endlich in den Müll kommt.

Ewald Stefan Pollok ist ein großes Kunststück gelungen - er gab den Tragödien seiner Heimat eine nicht nur national-schlesische Dimension, sondern auch eine Menschliche. Wir wollten in die „Schlesischen Tragödien“ wie in einen Spiegel schauen und dabei nachdenken: haben wir das Recht hineinzuschauen?


Die polnische Fassung dieses Textes: TRAGEDIE LUDZKIE