Die Entdeckung der Aufhebung polnischer Vertreibungsdekrete seit den vierziger Jahren, die von polnischen Zeitgeschichtlern ins Gespräch
gebracht wurde, zeigt vor allem, dass zwar die Aufhebung bzw. die Nichtexistenz der Unrechtsdekrete Voraussetzung für konstruktive Gespräche
wäre, dass aber die Tatsachen unabhängig davon bestehen.
Leider stimmt es nicht, wenn zudem polnischerseits behauptet wird, es habe überhaupt keine polnischen Enteignungs- und
Vertreibungsdekrete gegeben, man hätte ausschließlich nach dem Willen der Potsdamer Konferenz gehandelt. Es ist historisch belegt, dass
sogenannte wilde Vertreibungen lange vor den Potsdamer Beschlüssen stattgefunden hatten. Nachzulesen auch in polnischen Publikationen.
Allerdings wurde die Nachkriegsordnung Polen in der Tat weitgehend aufgedrängt . Die Westverschiebung wurde von der Exilregierung in
London unter Mikolajczyk nur mit Vorbehalten akzeptiert. Mikolajczyk forderte die Unverletzlichkeit der östlichen Grenze Polens und eine
territoriale Erweiterung im Westen um Danzig, Ostpreußen, das westliche Oberschlesien und Grenzkorrekturen in Pommern. Er protestierte
mehrmals gegen das Bestreben Stalins Polen hinter die Curson-Linie zurückzudrängen, für einen noch größeren territorialen Zugewinn im
Westen.
Es gab unter den Anhängern Mikolajczyks auch Stimmen, die Zweifel äußerten, ob Millionen Deutsche integrierbar wären. An
Vertreibungen des Ausmaßes, wie die erfolgten, dachte man in diesem Gremium kaum.
Dagegen gab das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung - gegängelt von Stalin - Dekrete heraus, die sehr wohl mit den Benesch-
Dekreten vergleichbar sind und auch die Vertreibung aus Polen unterschied sich nicht in Härte und Grausamkeit von der des Nachbarlandes.
Bereits das Manifest des Polnischen Befreiungskommitees vom 22.Juli 1944 postulierte die Inbesitznahme Pommerns und Oberschlesiens und
polnische „Grenzpfähle an der Oder“.
Edward Osobka-Morawski, der Chef des polnischen Befreiungskommitees und bald Erster Ministerpräsident, bestätigte am 30.August 1944 die
Absicht, in Polens neuen Westgebieten Vertreibungen größten Ausmaßes durchzuführen. Wladyslaw Gomulka, Erster Sekretär der
Kommunistischen Partei Polens und Beauftragter der Regierung für die sogenannten „wiedergewonnenen Gebiete“, forderte im
Februar 1945, es müssten diesbezüglich vollendete Tatsachen geschaffen werden. Ein Erlass mit dem Datum 2.März 1945 - nach Jalta, aber
einige Monate vor der Potsdamer Konferenz - bestimmte, dass allen Deutschen in den sogenannten wiedergewonnen Gebieten ihr Eigentum, ihre Häuser
und Wohnungen genommen werden sollen. Sie selbst sollen aus den Grenzen Polens entfernt werden. Großbesitz wurde zum staatlichen Eigentum
erklärt. Man war nach Anweisungen Moskaus bestrebt, vollendete Tatsachen zu schaffen.
Ein am 13.Sept.1946 erscheinendes Dekret erkennt den Deutschen in Polen die polnische Staatsangehörigkeit ab und legalisiert damit alle
bisherigen Grausamkeiten an einer Zivilbevölkerung nach Ende des Krieges. Der Regierung stand in dem Moment Boleslaw Bierut vor.
Einen Beweis, dass das Drängen nach Westen aber auch eine ureigene Sache der Polen war, enthält die Publikation des Nationaldemokraten
Roman Dmowski u.d.T. „Deutschland, Russland und die polnische Frage“ aus dem Jahre 1908 , in der ein „piastischer“
polnischer Staat von Meer zu Meer gefordert wird , von Lübeck bis Odessa.
Ebenso kam eine starke Akzeptanz der Vertreibungen und der Inbesitznahme deutscher Gebiete durch die gesamte polnische Bevölkerung im
Referendum vom 30. Juni 1946 zum Ausdruck. Drei Fragen, die mit Ja oder Nein eine Akzeptanz des neuen Regime bekräftigen sollten, wurden
den Wählern vorgelegt. Während man den zwei ersten Fragen mehrheitlich eine Absage erteilte, wurde dem Erhalt der Westgebiete mit großer
Mehrheit zugestimmt. Auch die Katholische Kirche unterstützte bekanntlich vehement den Neubesitz des Vaterlandes.
Und auch die heutigen Forderungen Polens an die EU, nach dem Beitritt den Deutschen jahrelang Ansiedlungsrecht verweigern zu dürfen,
sind aus dem Geist bezw Ungeist eines vehementen polnischen Nationalismus, der deutscherseits überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird.
Es muss klar erkannt werden, dass unabhängig von der Existenz oder Nicht-Existenz dieser oder jener Dekrete das Unrecht der Vertreibung
bestehen bleibt, eines Verbrechens im Sinne des Völkerrechts, das so nur unter den Vorzeichen einer Diktatur möglich war.
Die Vertreibung der Deutschen aus ihren östlichen Provinzen war eine grausame Ahndung der Verbrechen eines totalitären Regimes mit den
Methoden eines anderen ebenso verbrecherischen totalitären Regimes.
Man hätte erwarten dürfen, dass sich das demokratische Polen von diesen ungeheuren Vorgängen distanzieren würde, insbesondere nachdem
das vereinte Deutschland die Grenze von 1945 anerkannt hatte. Es hätte durchaus einem demokratischen Gerechtigkeitssinn entsprochen, wenn
sich Polen den Deutschen und insbesondere den Vertriebenen geöffnet und sie eingeladen hätte zum Aufbau der bisher weitgehend
verwahrlosten übernommenen Gebiete.
Das Beharren auf den Benesch- Dekreten oder die eben entfachten strategischen Diskussionen der Polen über das angebliche Nicht-
Vorhandensein von Vertreibungsdekreten sollten als Alarmsignal in Europa gewertet werden. Es sind Vorläufer eines Eisriffs, das vor dem
Eintritt der östlichen Völker ins gemeinsame Haus Europa zum Schmelzen gebracht werden sollte. Es wäre gefährlich für ganz Europa
derartig tiefgreifende Probleme zu bagatellisieren, und sie nicht vor dem Beitritt der Vertreibungsstaaten in die europäische
Wertegemeinschaft zu klären.
Denn es geht nicht um Dekrete und Deklarationen, sondern um tragische historische Störfälle nie dagewesenen Ausmaßes und die
Bereitschaft, die Geschehnisse beim Namen zu nennen und Wiedergutmachung zu leisten.
Dass man sich dagegen sträubt, beweist - das Übel liegt tiefer. Es hat historische, politische und psychologische Gründe. Es liegt im
Bereich des kollektiven Bewusstseins, ja, auch des Unterbewusstseins.
Aber dafür, dass es bisher nicht zu tiefgreifenderen und heilsamen Auseinandersetzungen zu diesen tragischen Ereignissen kam, ist auch
die deutsche Seite verantwortlich - man mahnte bisher das Unrecht an der eigenen Bevölkerung kaum ein. Es galt jahrzehntelang als politisch
unkorrekt, über die Vertreibungen zu sprechen. Man hat in Deutschland versucht, unsägliches Leiden Deutscher nach dem Krieg zu
verschweigen. Erst jetzt mehr als ein Dezenium nach der Wiedervereinigung beginnt man auch über dieses Jahrtausendereignis öffentlich zu
sprechen.
So stand und steht oft immer noch den aufrichtigen Bemühungen vieler Polen, die schuldbehafteten Aspekte ihrer Vergangenheit zu
reflektieren, vergangenheitsbenommene Scheu der Deutschen gegenüber, die ein aufrichtiges Gespräch verhindert.
Schlimmer, Verantwortliche akzeptieren unsinnige Forderungen nach Sonderregelungen, stellen aber keine eigenen, die gerechtfertigt wären.
Man sollte sich doch fragen, wie soll das gut gehen? Die Infrastrukturen der Beitrittsländer sind überaus desaströs, insbesondere die
übernommenen Gebiete sind schwach besiedelt und schlecht bewirtschaftet, wovon sich jeder Reisende überzeugen kann. Noch gefährlicher und
weniger sichtbar ist die von dem Erlebnis zweier Totalitarismen gestörte Mentalität der Völker, bei denen europäisches Denken noch immer
zur Seltenheit gehört.
Um einem gefährlichen Ungleichgewicht entgegenzuwirken, müsste nach neuen Wegen gesucht werden, die für alle gerecht wären.
Es mag für die Vertreiberstaaten heute schwierig sein, die Vertreibungsdekrete rückgängig zu machen, ohne dabei das Leben der eigenen
Bürger zu destabilisieren. Doch die Forderungen der Polen den Deutschen jahrelang nach dem Beitritt in die Europäische Union das
Ansiedlungsrecht zu verweigern, sollte entschieden zurückgewiesen werden. Dagegen sollte über günstige Sonderregelungen beim Erwerb von
Boden und Immobilien für die Vertriebenen und ihre Nachkommen nachgedacht werden, sowie an die Möglichkeit des Erwerbs einer zweiten
Staatsangehörigkeit für diese Geschädigten.
Wir Europäer sind zwangsläufig aufeinander angewiesen, wollen wir eine sinnvolle Zukunft gestalten, aber mit dem Wunschdenken, riesige
Stolpersteine aus der Vergangenheit würden sich durch Wegsehen auflösen, ist niemandem geholfen.