KONTAKT: post@SilesiaSuperior.com

 GÓRNY ¦L¡SK - OBERSCHLESIEN

 

Nr. 2 / 05.2002

Silesia Superior 2/05.2002

Ernst Gierlich

Minderheitenschutz und Demokratie -
ein Spannungsverhältnis?

Staats- und völkerrechtliche Fachtagung
der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen

Aktuelle Beispiele verdeutlichen, in welchem Maße die Sicherung eines effektiven Schutzes ethnischer und nationaler Minderheiten und gerechter Mitwirkungsmöglichkeiten von Minderheiten die Voraussetzung für eine friedliche und auf demokratischen Prinzipien beruhende Entwicklung eines Staates darstellt. Dies nicht zuletzt für die jungen Demokratien des östlichen Europa. Die Frühjahrstagung, welche die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen traditionell in Verbindung mit der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht vom 6. - 8. März in Königswinter abhielt, hatte sich daher in diesem Jahr zum Ziel gesetzt, zum einen systematisch sowie historisch das Verhältnis von Demokratie und Minderheitenschutz zu untersuchen und zum anderen die gewonnenen Erkenntnisse auf die Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas zu beziehen. Dies schloss natürlich die Behandlung aktueller Detailfragen der Möglichkeiten kultureller und politischer Mitwirkung von Angehörigen der deutschen Minderheiten in den genannten Staaten ein.

Mehr als 100 Teilnehmer konnte Dr. Reinold Schleifenbaum, der Vorstandsvorsitzende der Kulturstiftung in Königswinter begrüßen. Dass die Tagung in gewohnter Weise stattfinden konnte, weitere wichtige Tagungen in diesem Jahr anstehen und ein umfangreiches Schriftenverzeichnis der Kulturstiftung mit zahlreichen Neuerscheinungen vorliegt, nahm Hans-Günther Parplies, Kuratoriumsvorsitzender der Kulturstiftung, zum Anlass, der z.T. in den Verbänden der Vertriebenen und in der Öffentlichkeit verbreiteten Auffassung vom Ende der Kulturstiftung nach der Einstellung der institutionellen Bundesförderung vor zwei Jahren entgegenzutreten. Die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Thüringen sowie Anstrengungen aus den Verbänden der Vertriebenen selbst, allen voran der Landesmannschaft Ostpreußen sowie der Landesverbände der Vertriebenen in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen haben es ermöglicht, Kernbereiche der Arbeit fortzuführen - Zeichen des Selbstbehauptungswillens der Vertriebenen. „Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen lebt!“ lautete seine Botschaft, die er den Anwesenden in die Verbände und die Öffentlichkeit hinauszutragen bat.

Dr. Lazlo Saringer, Leiter der Bonner Außenstelle der Botschaft Ungarn, ging in seinem Grußwort angesichts der hohen Aktualität des Themas auf die konkrete Situation der etwa 10 % der Gesamtbevölkerung bildenden Angehörigen ethnischer und nationaler Minderheiten in Ungarn ein. Er betonte, dass man die jahrhundertealte Vielfalt der Minderheiten als wichtiges Element des kulturellen Lebens und damit als einen staatstragenden Faktor in Ungarn betrachtet. Auch wird ausdrücklich begrüßt und gefördert, dass nationale Minderheiten gute Kontakte zum jeweiligen Bezugsstaat pflegen. Insgesamt wertete er die bewusste Pflege der Kultur der Minderheiten als dem langfristigen nationalen Interesse Ungarns entsprechend.

Zur thematischen Konzeption der Tagung bemerkte namens der wissenschaftlichen Leitung Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Freiburg, dass mit der Thematik „Minderheitenschutz und Demokratie“ diesmal ein übergreifender, für das Gesamtthema des Minderheitenschutzes wichtiger Aspekt gewählt wurde, der bislang in der wissenschaftlichen Literatur noch kaum behandelt wurde. Wenn es gelingt, zu zeigen, dass Minderheitenschutz nicht einen Widerspruch zu den demokratischen Verfassungsprinzipien bildet, sondern geradezu ein Gebot des konsequenten Fortdenkens dieser Prinzipien, dann kann dies auch für die praktische Umsetzung des Minderheitenschutzes ein wichtiges Argument darstellen.

Eine Klärung der Grundbegriffe war die Intention des Eingangsreferats, in dem Prof. Dr. Christian Hillgruber, Erlangen, „Minderheitenschutz und Volksbegriff in der ideengeschichtlichen Diskussion seit der Aufklärung“ behandelte. Er stellte prototypisch zwei verschiedene Volksbegriffe gegenüber: den „aufgeklärten“, wie er zu Beginn der Französischen Revolution formuliert wurde, und den „historisch-individuellen“, den die deutsche Aufklärung und Romantik entwickelten. Das in Frankreich herrschende Dogma von der Einheit und Unteilbarkeit der egalitären und homogenen französischen Nation als politischer Willensgemeinschaft lässt, so Hillgruber, für die Anerkennung ethnischer Minderheiten und die Rücksicht auf historisch gewachsene, regionale Unterschiede keinen Raum. Sobald sich hingegen die deutsche Volksromantik mit politischen Pathos verbindet, dabei sich aus ihrem geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit der nach Humanität strebenden Aufklärung herauslöst, wächst die Gefahr des übersteigerten Nationalismus. Es gilt, beide Volksbegriffe miteinander zu kombinieren. Als Lösung bietet sich für die spezifischen Probleme ethnischer Minderheiten in erster Linie das Konzept der personellen oder territorialen Autonomie an.

Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Freiburg, behandelte die Frage nach Demokratie und Freiheit in multiethnischen Staaten. Wird die Notwendigkeit von besonderen Minderheitenrechten angesichts der individuellen Freiheitsrechte und des Diskriminierungsverbots im demokratischen Staat auch immer wieder in Abrede gestellt, so ist doch darauf zu verweisen, dass Deckungsgleichheit von Staatsvolk und Volk im ethnischen Sinne, wie sie der demokratisch verfasste Nationalstaat voraussetzt, nur als Denkmodell existiert. Fast alle Nationalstaaten haben ethnische Minderheiten auf ihrem Territorium, deren Siedlungsgebiete oft zersplittert sind. Hier schlägt der Vorteil an Freiheitsgewinn für die ethnische Mehrheit für die ethnische Minderheit in Freiheitsverlust um. In multiethnischen Staaten ist die nach dem demokratischen Gleichheitsprinzip organisierte Mehrheitsdemokratie daher keine den Grundideen von Frei­heit und Demokratie angemessene Staatsform, wenn sie nicht durch den besonderen ethnischen Zusammensetzung Rechnung tragende Elemente modifiziert wird. Das demokratische Mehrheitsprinzip muss somit zugunsten des Minderheitenschutzes einge­schränkt werden, nur auf diese Weise ist demokratische Herrschaft legitimierbar.

Wesentliches Element eines effektiven Minderheitenschutzes stellt gemäß Dr. Holger Kremser, Göttingen, die Sonderstellung von Minderheiten im Wahlrecht zu nationalen Parlamenten dar, auch wenn das Völkerrecht keine konkreten Vorgaben für die politische Beteiligung von ethnischen und nationalen Minderheiten enthält. Hier ist der Befürchtung mancher Staaten zu begegnen, dass die Existenz und das Engagement von politischen Parteien, die Minderheitenbelange vertreten, eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellten. Im Gegenteil: Solche Parteien integrieren die Minderheiten und wirken sich folglich für den Gesamtstaat stabilisierend aus. Hierbei gebietet es der Grundsatz der Chancengleichheit, Parteien nationaler bzw. ethnischer Minderheiten unter erleichterten Bedingungen zu den Parlamentswahlen zuzulassen und sie gegebenenfalls von wahlrechtlichen Sperrklauseln auszunehmen.

Minderheitenpolitik muss künftig, wie Dr. Gerhard Sabathil, Botschafter der Europäischen Kommission in Oslo, ausführte, verstärkt als Frage einer europäischen Innenpolitik aufgefasst werden. Der Schutz und die Rechte der europäischen Minderheiten gehören zu den Fragen, die im Hinblick auf die Erweiterung der EU auf bis zu 28 Mitgliedsländer und die damit verbundene Reform auf den Tisch kommen müssen und werden. Bezüglich der ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten geht es nicht um die Infragestellung von Grenzziehungen oder Eigentumsordnungen, sondern um Grundsätze bezüglich Minderheiten-, Grund- und Bürgerrechten. Traditionell bedingte unterschiedliche Minderheitenbegriffe bei den Mitgliedsstaaten der EU bewirken indes, dass diese mit zwei Maßstäben misst: Sie legt an eigene Staaten bisweilen nicht die gleichen strengen Maßstäbe an, wie an die Beitrittsstaaten. Fragen möglicher Diskriminierung von Minderheiten werden nach Umsetzung der Reform jedoch hier wie dort justiziabel sein, konkrete Fälle dann behandelt werden. So muss auch die Frage der Benesch-Dekrete in der Tschechischen Republik thematisiert werden, wobei es insbesondere um die konkrete Anwendung der Dekrete im Hinblick auf die verbliebenen Deutschen geht.

Der europäischen Perspektive stellte Jack Hoschouer, ehemals Heeresattaché der Botschaft der USA, Nonnweiler, das Minderheitenverständnis der USA vor, eines Landes, das fast ausschließlich aus Minderheiten, d.h. aus den Nachkommender verschiedenen Einwanderergruppen und der Urbevölkerung besteht. Hoschouer zeichnete insbesondere die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen nach, welche die in der Unabhängigkeitserklärung festgelegte „selbstverständliche Wahrheit“, dass „alle Menschen gleich geschaffen“ und „von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet“ seien, nur in hartnäckigem und langwierigem Kampf in die politische und gesellschaftliche Praxis umzusetzen vermochten, jedoch bis heute unter mancherlei sozialen und wirtschaftlichen Benachteiligungen zu leiden haben.

Prof. Dr. Tore Modeen, Helsingfors, erläuterte am Beispiel Finnlands die Organisation von Minderheiten und deren innerorganisatorische Demokratie. Dort stellt die schwedische Volksgruppe die größte Minderheit dar, deren Sprache aus historischen Gründen als gleichberechtigt neben Finnisch anerkannt ist. Einen besonderen Schutz ihrer Sprache und Kultur genießen aufgrund verschiedener völkerrechtlicher Verträge die schwedischen Bewohner der Åland-Inseln. Deren Parlament kommt sogar gesetzgeberische Gewalt zu. Der ethnische Charakter der als Ureinwohner geltenden Lappen wird in finnischen Verfassung ausdrücklich unter Schutz gestellt, der Gebrauch ihrer Sprache bei den Behörden zugelassen. Auch die Roma genießen als Volksgruppe gesetzlichen Schutz, während dieser den Angehörigen der russischen Volksgruppe, die als weitgehend assimiliert gelten, nicht zugestanden wird. Nach dem Ende der Sowjetunion eingewanderte finnische Ingermanländer gelten als Finnen und werden daher nicht als eigene Volksgruppe gewertet. Insgesamt gesehen haben so nur die schwedischen Åländer eine funktionierende innerorganisatorische Demokratie vorzuweisen.

Prof. Dr. Christoph Pan vom Südtiroler Volksgruppen-Institut in Bozen sprach über die politische Organisation von Minderheiten als Voraussetzung für eine demokratische Mitbestimmung. Er wies darauf hin, dass bei vielen der über 300 Minderheiten in Europa ein politisches Organisationsdefizit besteht, das strukturell bedingt ist. Den Minderheiten stehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten der politischen Organisation offen: die Integration in die politischen Organisationen der nationalen Mehrheit oder die Selbstorganisation durch Errichtung eigener Parteien. Von diesen zwei Möglichkeiten gab Prof. Dr. Pan der Selbstorganisation eindeutig den Vorzug vor der Integrationslösung, da diese zwangsläufig mit sachlichen und personellen Abhängigkeiten von der nationalen verbunden ist.

Gemäß Dr. Josef Gonschior, Deutscher Freundschaftskreis Ratibor, hatte die deutsche Minderheit in Oberschlesien in den vergangenen zehn Jahren seit ihrer offiziellen Anerkennung kaum die Möglichkeit, das große Defizit zu beseitigen, das hinsichtlich der wichtigsten kulturellen Merkmale ihrer Volksgruppe wie Muttersprache und Identitätsgefühl bestand. Dadurch war sie bislang nicht zu einer effektiven demokratischen Mitwirkung im Staat in der Lage, was sogar für das größte Ballungsgebiet der deutschen Minderheit in Polen, die Woiwodschaft Oppeln gilt, in der die Volksgruppe die zweitgrößte politische Kraft in der Kommunalverwaltung darstellt. Besonders bedenklich für den Fortbestand der Volksgruppe ist laut Dr. Gonschior die Einführung der dritten „schlesischen“ Nationalität in den Fragebogen der anstehenden Volkszählung. Mit ihr sich kann die Zahl der zur deutschen Minderheit sich bekennenden Personen deutlich verringern, so dass wegen des geringen Anteils an bekennenden Deutschen es nur wenige Gemeinden geben wird, in denen das künftige polnische Minderheitengesetz, auf das man ansonsten Hoffnungen setzen könnte, zur Geltung kommen wird.

Dr. Monica Vlad, Universität Hermannstadt/ Sibiu, beschäftigte sich mit aktuellen Entwicklungen im Hinblick auf Demokratie und Minderheitenschutz in Rumänien, wo es, wie sie ausführte, zwar eine neue, vom „europäischen Geist“ inspirierte Minderheitengesetzgebung gibt, der man jedoch im Zuge des allgemeinen Autoritätsverlusts des Staates keine Glaubwürdigkeit beimisst. Immerhin ist die Situation des ethnischen Zusammenlebens in Rumänien heute relativ unproblematisch, erfreuen sich die Rumänen heute damit einer Stabilität, die geradezu eine Ausnahme auf dem Balkan darstellt. Das allgemeine Problem der Region bildet indes, dass die Bildung neuer Nationalstaaten auf ethnischer Grundlage neue Minderheiten bewirkt und deren Verfolgung hervorruft. Bis das Grundproblem, ob unter einem Volk ethnos oder demos zu verstehen sei, auf dem Balkan nicht gelöst ist, ist die Hoffnung auf Frieden in dieser Region unrealistisch.

In einer abschließenden Podiumsdiskussion wurde unter Leitung von Dr. Reinold Schleifenbaum die Lage der ethnischen und nationalen Minderheiten im Baltikum, in Ungarn und in Polen den Verhältnissen im dreisprachig gegliederten Belgien gegenübergestellt. Hier wandelte sich, wie Prof. Dr. Rudolf Kern, Löwen, darstellte, seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts das einst unter französischem Verständnis zentralistisch und sprachen­unitaristisch geschaffene Staatswesens schrittweise zu einer die Rechte seiner Volksgruppen respektierenden föderalen Ordnung um - mögliches Vorbild für die jungen Demokratien Ost- und Ostmittel- und Südosteuropas. Auf die zum Teil hervorragenden Minderheiten­schutzregelungen in Belgien und anderen Staaten der EU wies auch Dr. Holger Kremser hin, der anmahnte, solche auch in den Staaten des östlichen Europa zu verwirklichen und damit fortdauerndes Vertreibungs- und Enteignungsunrecht aufzuheben. Dies muss zu einer unabdingbaren Bedingung für den Beitritt dieser Staaten zur Europäischen Union gemacht werden. Hans-Günther Parplies forderte die Anwesenden auf, nach vorne zu schauen und zu überlegen, was hierzu konkret getan werden könne. Nachdem aufgrund des Europäischen Rahmenübereinkommens Minderheitenschutz nicht mehr Angelegenheit der einzelnen Staaten ist, in die sie sich die Einmischung von außen verbitten können, kann auch die deutsche Bundesregierung hierzu in die Pflicht genommen werden.

Als ein umfangreiches, aber zu bewältigendes Aufgabenfeld für alle, die an einer europäischen Friedensordnung ernsthaft zu arbeiten bereit sind, bezeichnete abschließend Dr. Reinold Schleifenbaum die Weiterentwicklung des Minderheitenschutzes. Mit der mehrfach angeschnittenen Frage nach einer europäischen Wertegemeinschaft, die der angestrebten Friedensordnung zugrunde liegt, wird sich die staats- und völkerrechtliche Fachtagung der Kulturstiftung im kommenden Jahr beschäftigen.


Link zu der polnischen Fassung des Textes:

Mniejszo¶ci narodowe, ich ochrona i demokracja - napiête stosunki?