Staats- und völkerrechtliche Fachtagung
der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen
Aktuelle Beispiele verdeutlichen, in welchem Maße die Sicherung eines effektiven Schutzes ethnischer und nationaler
Minderheiten und gerechter Mitwirkungsmöglichkeiten von Minderheiten die Voraussetzung für eine friedliche und auf demokratischen
Prinzipien beruhende Entwicklung eines Staates darstellt. Dies nicht zuletzt für die jungen Demokratien des östlichen Europa. Die Frühjahrstagung,
welche die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen traditionell in Verbindung mit der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht vom 6. -
8. März in Königswinter abhielt, hatte sich daher in diesem Jahr zum Ziel gesetzt, zum einen systematisch sowie historisch das Verhältnis
von Demokratie und Minderheitenschutz zu untersuchen und zum anderen die gewonnenen Erkenntnisse auf die Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas
zu beziehen. Dies schloss natürlich die Behandlung aktueller Detailfragen der Möglichkeiten kultureller und politischer Mitwirkung von
Angehörigen der deutschen Minderheiten in den genannten Staaten ein.
Mehr als 100 Teilnehmer konnte Dr. Reinold Schleifenbaum, der Vorstandsvorsitzende der Kulturstiftung in Königswinter
begrüßen. Dass die Tagung in gewohnter Weise stattfinden konnte, weitere wichtige Tagungen in diesem Jahr anstehen und ein umfangreiches
Schriftenverzeichnis der Kulturstiftung mit zahlreichen Neuerscheinungen vorliegt, nahm Hans-Günther Parplies, Kuratoriumsvorsitzender der
Kulturstiftung, zum Anlass, der z.T. in den Verbänden der Vertriebenen und in der Öffentlichkeit verbreiteten Auffassung vom Ende der
Kulturstiftung nach der Einstellung der institutionellen Bundesförderung vor zwei Jahren entgegenzutreten. Die Bundesländer Baden-Württemberg,
Bayern, Hessen und Thüringen sowie Anstrengungen aus den Verbänden der Vertriebenen selbst, allen voran der Landesmannschaft Ostpreußen
sowie der Landesverbände der Vertriebenen in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen haben es ermöglicht, Kernbereiche der
Arbeit fortzuführen - Zeichen des Selbstbehauptungswillens der Vertriebenen. „Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen
lebt!“ lautete seine Botschaft, die er den Anwesenden in die Verbände und die Öffentlichkeit hinauszutragen bat.
Dr. Lazlo Saringer, Leiter der Bonner Außenstelle der Botschaft Ungarn, ging in seinem Grußwort angesichts der hohen
Aktualität des Themas auf die konkrete Situation der etwa 10 % der Gesamtbevölkerung bildenden Angehörigen ethnischer und nationaler
Minderheiten in Ungarn ein. Er betonte, dass man die jahrhundertealte Vielfalt der Minderheiten als wichtiges Element des kulturellen Lebens
und damit als einen staatstragenden Faktor in Ungarn betrachtet. Auch wird ausdrücklich begrüßt und gefördert, dass nationale
Minderheiten gute Kontakte zum jeweiligen Bezugsstaat pflegen. Insgesamt wertete er die bewusste Pflege der Kultur der Minderheiten als dem
langfristigen nationalen Interesse Ungarns entsprechend.
Zur thematischen Konzeption der Tagung bemerkte namens der wissenschaftlichen Leitung Prof. Dr. Dietrich Murswiek,
Freiburg, dass mit der Thematik „Minderheitenschutz und Demokratie“ diesmal ein übergreifender, für das Gesamtthema des
Minderheitenschutzes wichtiger Aspekt gewählt wurde, der bislang in der wissenschaftlichen Literatur noch kaum behandelt wurde. Wenn es
gelingt, zu zeigen, dass Minderheitenschutz nicht einen Widerspruch zu den demokratischen Verfassungsprinzipien bildet, sondern geradezu ein
Gebot des konsequenten Fortdenkens dieser Prinzipien, dann kann dies auch für die praktische Umsetzung des Minderheitenschutzes ein
wichtiges Argument darstellen.
Eine Klärung der Grundbegriffe war die Intention des Eingangsreferats, in dem Prof. Dr. Christian Hillgruber, Erlangen,
„Minderheitenschutz und Volksbegriff in der ideengeschichtlichen Diskussion seit der Aufklärung“ behandelte. Er stellte
prototypisch zwei verschiedene Volksbegriffe gegenüber: den „aufgeklärten“, wie er zu Beginn der Französischen Revolution
formuliert wurde, und den „historisch-individuellen“, den die deutsche Aufklärung und Romantik entwickelten. Das in Frankreich
herrschende Dogma von der Einheit und Unteilbarkeit der egalitären und homogenen französischen Nation als politischer Willensgemeinschaft
lässt, so Hillgruber, für die Anerkennung ethnischer Minderheiten und die Rücksicht auf historisch gewachsene, regionale Unterschiede
keinen Raum. Sobald sich hingegen die deutsche Volksromantik mit politischen Pathos verbindet, dabei sich aus ihrem geistesgeschichtlichen
Zusammenhang mit der nach Humanität strebenden Aufklärung herauslöst, wächst die Gefahr des übersteigerten Nationalismus. Es gilt,
beide Volksbegriffe miteinander zu kombinieren. Als Lösung bietet sich für die spezifischen Probleme ethnischer Minderheiten in erster
Linie das Konzept der personellen oder territorialen Autonomie an.
Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Freiburg, behandelte die Frage nach Demokratie und Freiheit in multiethnischen Staaten. Wird
die Notwendigkeit von besonderen Minderheitenrechten angesichts der individuellen Freiheitsrechte und des Diskriminierungsverbots im
demokratischen Staat auch immer wieder in Abrede gestellt, so ist doch darauf zu verweisen, dass Deckungsgleichheit von Staatsvolk und Volk
im ethnischen Sinne, wie sie der demokratisch verfasste Nationalstaat voraussetzt, nur als Denkmodell existiert. Fast alle Nationalstaaten
haben ethnische Minderheiten auf ihrem Territorium, deren Siedlungsgebiete oft zersplittert sind. Hier schlägt der Vorteil an
Freiheitsgewinn für die ethnische Mehrheit für die ethnische Minderheit in Freiheitsverlust um. In multiethnischen Staaten ist die nach
dem demokratischen Gleichheitsprinzip organisierte Mehrheitsdemokratie daher keine den Grundideen von Freiheit und Demokratie angemessene
Staatsform, wenn sie nicht durch den besonderen ethnischen Zusammensetzung Rechnung tragende Elemente modifiziert wird. Das demokratische
Mehrheitsprinzip muss somit zugunsten des Minderheitenschutzes eingeschränkt werden, nur auf diese Weise ist demokratische Herrschaft
legitimierbar.
Wesentliches Element eines effektiven Minderheitenschutzes stellt gemäß Dr. Holger Kremser, Göttingen, die
Sonderstellung von Minderheiten im Wahlrecht zu nationalen Parlamenten dar, auch wenn das Völkerrecht keine konkreten Vorgaben für die
politische Beteiligung von ethnischen und nationalen Minderheiten enthält. Hier ist der Befürchtung mancher Staaten zu begegnen, dass die
Existenz und das Engagement von politischen Parteien, die Minderheitenbelange vertreten, eine Gefahr für die nationale Sicherheit
darstellten. Im Gegenteil: Solche Parteien integrieren die Minderheiten und wirken sich folglich für den Gesamtstaat stabilisierend aus.
Hierbei gebietet es der Grundsatz der Chancengleichheit, Parteien nationaler bzw. ethnischer Minderheiten unter erleichterten Bedingungen zu
den Parlamentswahlen zuzulassen und sie gegebenenfalls von wahlrechtlichen Sperrklauseln auszunehmen.
Minderheitenpolitik muss künftig, wie Dr. Gerhard Sabathil, Botschafter der Europäischen Kommission in Oslo, ausführte,
verstärkt als Frage einer europäischen Innenpolitik aufgefasst werden. Der Schutz und die Rechte der europäischen Minderheiten gehören
zu den Fragen, die im Hinblick auf die Erweiterung der EU auf bis zu 28 Mitgliedsländer und die damit verbundene Reform auf den Tisch
kommen müssen und werden. Bezüglich der ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten geht es nicht um die Infragestellung von Grenzziehungen
oder Eigentumsordnungen, sondern um Grundsätze bezüglich Minderheiten-, Grund- und Bürgerrechten. Traditionell bedingte unterschiedliche
Minderheitenbegriffe bei den Mitgliedsstaaten der EU bewirken indes, dass diese mit zwei Maßstäben misst: Sie legt an eigene Staaten
bisweilen nicht die gleichen strengen Maßstäbe an, wie an die Beitrittsstaaten. Fragen möglicher Diskriminierung von Minderheiten werden
nach Umsetzung der Reform jedoch hier wie dort justiziabel sein, konkrete Fälle dann behandelt werden. So muss auch die Frage der
Benesch-Dekrete in der Tschechischen Republik thematisiert werden, wobei es insbesondere um die konkrete Anwendung der Dekrete im Hinblick
auf die verbliebenen Deutschen geht.
Der europäischen Perspektive stellte Jack Hoschouer, ehemals Heeresattaché der Botschaft der USA, Nonnweiler, das
Minderheitenverständnis der USA vor, eines Landes, das fast ausschließlich aus Minderheiten, d.h. aus den Nachkommender verschiedenen
Einwanderergruppen und der Urbevölkerung besteht. Hoschouer zeichnete insbesondere die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen
nach, welche die in der Unabhängigkeitserklärung festgelegte „selbstverständliche Wahrheit“, dass „alle Menschen gleich
geschaffen“ und „von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet“ seien, nur in hartnäckigem und
langwierigem Kampf in die politische und gesellschaftliche Praxis umzusetzen vermochten, jedoch bis heute unter mancherlei sozialen und
wirtschaftlichen Benachteiligungen zu leiden haben.
Prof. Dr. Tore Modeen, Helsingfors, erläuterte am Beispiel Finnlands die Organisation von Minderheiten und deren
innerorganisatorische Demokratie. Dort stellt die schwedische Volksgruppe die größte Minderheit dar, deren Sprache aus historischen Gründen
als gleichberechtigt neben Finnisch anerkannt ist. Einen besonderen Schutz ihrer Sprache und Kultur genießen aufgrund verschiedener völkerrechtlicher
Verträge die schwedischen Bewohner der Åland-Inseln. Deren Parlament kommt sogar gesetzgeberische Gewalt zu. Der ethnische Charakter
der als Ureinwohner geltenden Lappen wird in finnischen Verfassung ausdrücklich unter Schutz gestellt, der Gebrauch ihrer Sprache bei den
Behörden zugelassen. Auch die Roma genießen als Volksgruppe gesetzlichen Schutz, während dieser den Angehörigen der russischen
Volksgruppe, die als weitgehend assimiliert gelten, nicht zugestanden wird. Nach dem Ende der Sowjetunion eingewanderte finnische Ingermanländer
gelten als Finnen und werden daher nicht als eigene Volksgruppe gewertet. Insgesamt gesehen haben so nur die schwedischen Åländer
eine funktionierende innerorganisatorische Demokratie vorzuweisen.
Prof. Dr. Christoph Pan vom Südtiroler Volksgruppen-Institut in Bozen sprach über die politische Organisation von
Minderheiten als Voraussetzung für eine demokratische Mitbestimmung. Er wies darauf hin, dass bei vielen der über 300 Minderheiten in
Europa ein politisches Organisationsdefizit besteht, das strukturell bedingt ist. Den Minderheiten stehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten
der politischen Organisation offen: die Integration in die politischen Organisationen der nationalen Mehrheit oder die Selbstorganisation
durch Errichtung eigener Parteien. Von diesen zwei Möglichkeiten gab Prof. Dr. Pan der Selbstorganisation eindeutig den Vorzug vor der
Integrationslösung, da diese zwangsläufig mit sachlichen und personellen Abhängigkeiten von der nationalen verbunden ist.
Gemäß Dr. Josef Gonschior, Deutscher Freundschaftskreis Ratibor, hatte die deutsche Minderheit in Oberschlesien in den
vergangenen zehn Jahren seit ihrer offiziellen Anerkennung kaum die Möglichkeit, das große Defizit zu beseitigen, das hinsichtlich der
wichtigsten kulturellen Merkmale ihrer Volksgruppe wie Muttersprache und Identitätsgefühl bestand. Dadurch war sie bislang nicht zu einer
effektiven demokratischen Mitwirkung im Staat in der Lage, was sogar für das größte Ballungsgebiet der deutschen Minderheit in Polen, die
Woiwodschaft Oppeln gilt, in der die Volksgruppe die zweitgrößte politische Kraft in der Kommunalverwaltung darstellt. Besonders
bedenklich für den Fortbestand der Volksgruppe ist laut Dr. Gonschior die Einführung der dritten „schlesischen“ Nationalität
in den Fragebogen der anstehenden Volkszählung. Mit ihr sich kann die Zahl der zur deutschen Minderheit sich bekennenden Personen deutlich
verringern, so dass wegen des geringen Anteils an bekennenden Deutschen es nur wenige Gemeinden geben wird, in denen das künftige polnische
Minderheitengesetz, auf das man ansonsten Hoffnungen setzen könnte, zur Geltung kommen wird.
Dr. Monica Vlad, Universität Hermannstadt/ Sibiu, beschäftigte sich mit aktuellen Entwicklungen im Hinblick auf
Demokratie und Minderheitenschutz in Rumänien, wo es, wie sie ausführte, zwar eine neue, vom „europäischen Geist“ inspirierte
Minderheitengesetzgebung gibt, der man jedoch im Zuge des allgemeinen Autoritätsverlusts des Staates keine Glaubwürdigkeit beimisst.
Immerhin ist die Situation des ethnischen Zusammenlebens in Rumänien heute relativ unproblematisch, erfreuen sich die Rumänen heute damit
einer Stabilität, die geradezu eine Ausnahme auf dem Balkan darstellt. Das allgemeine Problem der Region bildet indes, dass die Bildung
neuer Nationalstaaten auf ethnischer Grundlage neue Minderheiten bewirkt und deren Verfolgung hervorruft. Bis das Grundproblem, ob unter
einem Volk ethnos oder demos zu verstehen sei, auf dem Balkan nicht gelöst ist, ist die Hoffnung auf Frieden in dieser Region
unrealistisch.
In einer abschließenden Podiumsdiskussion wurde unter Leitung von Dr. Reinold Schleifenbaum die Lage der ethnischen und
nationalen Minderheiten im Baltikum, in Ungarn und in Polen den Verhältnissen im dreisprachig gegliederten Belgien gegenübergestellt. Hier
wandelte sich, wie Prof. Dr. Rudolf Kern, Löwen, darstellte, seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts das einst unter französischem Verständnis
zentralistisch und sprachenunitaristisch geschaffene Staatswesens schrittweise zu einer die Rechte seiner Volksgruppen respektierenden föderalen
Ordnung um - mögliches Vorbild für die jungen Demokratien Ost- und Ostmittel- und Südosteuropas. Auf die zum Teil hervorragenden
Minderheitenschutzregelungen in Belgien und anderen Staaten der EU wies auch Dr. Holger Kremser hin, der anmahnte, solche auch in den
Staaten des östlichen Europa zu verwirklichen und damit fortdauerndes Vertreibungs- und Enteignungsunrecht aufzuheben. Dies muss zu einer
unabdingbaren Bedingung für den Beitritt dieser Staaten zur Europäischen Union gemacht werden. Hans-Günther Parplies forderte die
Anwesenden auf, nach vorne zu schauen und zu überlegen, was hierzu konkret getan werden könne. Nachdem aufgrund des Europäischen Rahmenübereinkommens
Minderheitenschutz nicht mehr Angelegenheit der einzelnen Staaten ist, in die sie sich die Einmischung von außen verbitten können, kann
auch die deutsche Bundesregierung hierzu in die Pflicht genommen werden.
Als ein umfangreiches, aber zu bewältigendes Aufgabenfeld für alle, die an einer europäischen Friedensordnung
ernsthaft zu arbeiten bereit sind, bezeichnete abschließend Dr. Reinold Schleifenbaum die Weiterentwicklung des Minderheitenschutzes. Mit
der mehrfach angeschnittenen Frage nach einer europäischen Wertegemeinschaft, die der angestrebten Friedensordnung zugrunde liegt, wird
sich die staats- und völkerrechtliche Fachtagung der Kulturstiftung im kommenden Jahr beschäftigen.
Link zu der polnischen Fassung des Textes:
Mniejszo¶ci narodowe, ich ochrona i demokracja - napiête stosunki?