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 GÓRNY ¦L¡SK - OBERSCHLESIEN

 

Nr. 7 / 05.2003

Silesia Superior 7 / 05.2003

Renata Schumann

Oberschlesien ohne Oberschlesier?
Die Jugend verlässt das Land

Die Wende und mit ihr die Liberalisierung boten der einheimischen Bevölkerung Oberschlesiens einerseits die Möglichkeit sich als deutsche Minderheit zu bekennen und zu organisieren, anderseits konnte man endlich ungehindert das Land verlassen, in dem man sich keine Zukunftsperspektiven mehr erhoffte. Insbesondere junge Menschen nutzten die Gelegenheit in die Bundesrepublik umzusiedeln. Sie wurden als Spätaussiedler aufgenommen und in Integrationsmaßnahmen einbezogen. Es gingen vor allem die Jungen und die gut Ausgebildeten, die einheimische Intelligenz, darunter zahlreiche Mediziner und Ingenieure.

Die deutsche Minderheit trat u.a. mit dem Auftrag an, diese spontane Ausreisewilligkeit zu stoppen.

Bald entvölkerte ein weiteres Phänomen das Land – die Erwerbsmigration. Weitere tausende junge Oberschlesier nahmen die Möglichkeit wahr, die ihnen die zweite Staatsbürgerschaft gab und begannen an den Baustellen insbesondere der sogenannten neuen Länder, in der ehemaligen DDR zu malochen.

Es war einerseits der gleiche spontane Trend, der auch die neuen Bundesländer entvölkerte und entvölkert – man wollte schnell an dem westlichen Wohlstand teilhaben, anderseits war es Ausdruck der angesammelten Bitternis aus den Jahren als die Oberschlesier, die Hanysy, von den eingewanderten Polen gedemütigt und diskriminiert worden waren.

Von Seite der Mehrheit der Polen, insbesondere in Oberschlesien selbst, machte sich erneut starker Unwille gegen die Deutschen im Lande bemerkbar. - Solang wir nicht existieren durften, ließ man uns in Ruhe, jetzt fangen die Feindseligkeiten wieder an – äußerte sich zutreffend ein deutscher Oberschlesier.

In einer Umfrage des Zentrums für Meinungsforschung in Warschau vom Februar 1990 sprach sich nur 50% der Respondenten für die Rechte einer deutschen Minderheit aus, 32% verlangte, man möge die Deutschen des Landes verweisen. Die Aussagen der Befragten spiegelten insgesamt unüberwundene Ängste und Ambivalenzen im Verhältnis zu den Deutschen. ( Eine Psychose der Verunsicherung? Czy psychoza niepewnosci, „Polityka“ Nr.15 1990). Aus ihr ging weiter hervor, dass nur neun Prozent der Polen die Deutschen mögen, lediglich sechs Prozent der Überzeugung waren, man könne sich mit den Deutschen versöhnen. Über die Hälfte der Polen (56%) drückten Antipathie gegen die Deutschen aus. Siebzig Prozent der Respondenten bekannte sich zur Angst vor den Deutschen, wogegen nur zehn Prozent Angst vor den Russen bekundete. Die befragten Polen zeigten kein Vertrauen zu den Versicherungen der Deutschen, sie würden auf ihr verlorenes Territorium verzichten. Doch 79 % der Befragten wären nicht bereit gewesen den Deutschen Rechte auf die polnischen Westgebiete einzuräumen und 41% gönnte den Deutschen ihre Wiedervereinigung nicht. 54 Prozent der Befragten waren aber trotzdem der Meinung, die Deutschen hätten eine moralische Verpflichtung den Polen zu helfen, weil sie den Krieg verloren haben und dennoch im Wohlstand lebten.

Noch im Herbst 1990 rief der Besuch des deutschen Bundespräsidenten unfreundliche Kommentare in den polnischen Medien hervor und man zeigte bei dieser Gelegenheit die alten bösen Kriegsfilme über die Deutschen.

Das änderte sich in den folgenden Jahren allmählich. Bei späteren Umfragen erwies sich, dass sich die deutschen Minderheit von allen in Polen lebenden Minderheiten der größten Sympathie erfreut. ( Forum – Antypatie w procentach Nr.12.2001).

Insbesondere aber in der oberschlesischen Provinz waren die polnischen Medien wie auch ein Teil der Bevölkerung noch lange nach der Wende resistent einem neuen Denken gegenüber. Man tradierte hier die alten historischen Unwahrheiten in leicht modifizierter Form, um den Mythos eines polnischen Oberschlesiens aufrecht zuhalten. Man distanzierte sich zwar vom Deutschenhass des totalitären Regimes, zum Vorschein aber kam der traditionelle polnische Nationalismus, der sich vor allem auf die Fronten des Bruderkriegs in den zwanziger Jahre stützte. Die Presse schürte Angst vor den Deutschen, die nun womöglich wiederkommen würden, um Ansprüche zu erheben.

Spontanes Bemühen von polnischer Seite, das Unrecht, das den deutschen Oberschlesiern widerfahren war, zu benennen, geschweige denn wiedergutzumachen, war hier, wo es vor allem notwendig gewesen wäre, kaum wahrzunehmen.

Noch im Jahre 1989 stellte man in der „Trybuna Opolska“ rigoros fest, es dürfe keine deutsche Minderheit im Oppelner Schlesien geben. Man beklagte einerseits die Massen- auswanderung junger Leute nach Deutschland, sprach aber den Deutschen im Lande das Recht auf Muttersprache und eigene Kultur ab.

Dieselbe Zeitung verunglimpfte am 25.Oktober 1989 in einem Bericht über eine Sitzung des Präsidiums des Wojewodschaftsrates „die sogenannte deutsche Minderheit“. Darin wird suggeriert, dass die Minderheit von westdeutschen Organisationen gesteuert werde, die vor allem auf die Kirche Druck ausübten. Die Unterzeichner der deutschen Listen bekämen 50 bis 150 DM für eine Unterschrift oder Unterstützungen in der Höhe von 3000 bis 30000 DM. Man unterstellte eine wachsende Aggressivität deutscher Gruppierungen, und dass die Oberschlesier durch massive Bedrohungen gezwungen würden, die deutschen Listen zu unterschreiben. Schließlich hieiß es, die Zulassung der Minderheit sei in prozedurale Schwierigkeiten geraten, und sie selbst wäre nicht existenzfähig.

Während zwischen Warschau und Bonn, später Berlin und Warschau Gespräche stattfanden, die zu Hoffnungen berechtigten und Publikationen erschienen, die wie Meilensteine auf dem Wege zur Verständigung waren, erwies sich die polnische Gesellschaft, besonders dort, wo man mit den Deutschen zusammenleben sollte, in Oberschlesien, zum Umdenken kaum bereit.

Insbesondere der alte Hass der polnisch gesinnten Oberschlesier gegen ihre deutschen Brüder brach erneut auf und verdarb die Atmosphäre.

Agressiv seiner eigenen Volksgruppe gegenüber erwies sich allen voran Franciszek Marek, Professor an der Universität Oppeln, der in einigen Broschüren Verleumdungen gegen die Oberschlesier verbreitete und z.B. behauptete, ein Oberschlesier, der sich zum Deutschtum bekenne, verliere sein Menschtum. ( Tragedia gornoslaska, Opole 1989, und Gorny Slask jako pomost pomiedzy Polakami i Niemcami, Opole, 1990, zweisprachig – Können Deutsche und Polen die Vergangenheit vergessen? Opole 1994). Marek fand für die Herausgabe einer seiner Schmähschriften sogar Sponsoren in der Evangelischen Akademie in Mülheim an der Ruhr. Ein Beweis unter vielen, wie wenig man in Deutschland über Oberschlesien Bescheid wusste.

Deutsche Oberschlesier protestierten mehrmals gegen die Beleidigungen des Professors. Unter anderem verlangte man in einer Unterschriftenaktion mit einem offenen Brief an den Rektor der Universität Konsequenzen. Leider vergeblich.

Marek erklärte noch 2001 zum 80. Jahrestag des Bruderkriegs und des Plebiszits offiziell, man dürfe die Tränen einer polnischen Mutter nicht mit den Tränen einer deutschen Mutter vergleichen.

Aber auch die Historiker des Schlesischen Instituts fühlten sich weiterhin vor allem den gewohnten Propagandathesen verpflichtet und versuchten den Mythos eines historisch polnischen Schlesiens aufrechtzuhalten. So Professor Michal Lis und Professor Wieslaw Lesiuk in zahlreichen Äußerungen. Das Schlesische Institut, das bekanntlich mit dem Auftrag ins Leben gerufen worden war, den polnischen Charakter Schlesiens wissenschaftlich zu beweisen, funktionierte nach bisherigen Vorgaben.

In der gleichen Tradition steht konsequent die in Kattowitz erscheinende Zeitschrift „Slask“ (Schlesien), ein Nachfolgeblatt der von Szewczyk redigierten Kulturzeitschrift für Oberschlesien. Trotz des Titels, der eine Einbezogenheit aller Schlesier suggeriert, fühlt sich die Redaktion unter der Leitung von Tadeusz Kijonka nur den polnisch gesinnten Oberschlesiern und den zugewanderten Polen verpflichtet.

Manche der polnisch gesinnten Oberschlesier verstärkten auch in der Bundesrepublik die Verwirrung und Missverständnisse, indem sie ihr Bild Oberschlesiens verbreiteten und oft ein bereitwilliges Gehör fanden. So vor allem die eloquente und gut deutschsprechende Ethnologin und Senatorin Dorota Simonides, die eine zeitlang ein begehrter Gast bei TV Talkshows war. Man befragte diese polnisch gesinnte Oberschlesierin zum Thema der deutschen Minderheit und sie betrieb wirksame Propaganda gegen die deutschen Oberschlesier. Die Senatorin verkündete konsequent, die Oberschlesier seien selbstverständlich alle Polen und wer nach Deutschland ausreise, der tue es aus materiellen Gründen. Sie äußerte sich öffentlich, sie möchte lieber mit den guten Deutschen aus dem Westen und nicht mit den bösen Vertriebenen über Oberschlesien reden. Dass die Professorin das Bundesverdienstkreuz für ihre Verdienste für die deutsche Minderheit erhielt, weckte allgemeines Erstaunen der deutschen Oberschlesier.

In einem Interview in der „Polityka“ (Nr.14, 1993) äußerte sich auch die Beauftragte des Oppelner Woiwoden für die deutsche Minderheit, Danuta Berlinska, geringschätzig über die ihrem Schutz Empfohlenen. Die Oberschlesier hätten keine Kultur, behauptete die Beauftragte, sie wollen zwar keine Polen sein, wären aber auch keine Deutsche, weil sie kein Deutsch könnten und kein Wissen über deutsche Literatur hätten, sie verfechteten ein nebulöses Verlangen nach einer oberschlesischen Identität, die es in Wahrheit gar nicht gebe.

Ein Versuch, sich von der Kleinmacherei zu befreien, ging von dem deutschen Oberschlesier Ewald Stefan Pollok aus. Pollok, der allerdings das Buch in Polnisch gechrieben hat um den Menschen in Oberschlesien möglichkeit zu geben, die Warheit zu erfahren, reagierte temperamentvoll mit authentischer Empörung auf die Unterstellungen des Professors Marek und anderer. Exakt und mit nachprüfbaren Belegen arbeitend und dabei in schlüssiger essayistischer Form eine üppige Fülle von Material bietend, schrieb Pollok gegen die verbreiteten Lügen und Halblügen an und zeichnete ein authentisches Bild der Martyrologie der Oberschlesier nach 1945. Das keine 200 Seiten starke Buch umreißt bereits mit seinem langen Titel das Thema : „Legenden, Manipulationen und Lügen des Professor Marek in seiner Oberschlesischen Tragödie und die Wahrheit über Oberschlesien und die Nachkriegs-Diskriminierung seiner Bewohner. (Legendy, manipulacje, klamstwa prof. Marka w „Tragedii gornoslaskiej, a prawda o Slasku i powojennej dyskryminacji jego mieszkancow ,1989). Das Buch fand begeisterte Leser auch unter den Leuten, die außer der Zeitung kaum etwas lasen, sie sahen endlich ihr Schicksal wahrheitsgemäß dargestellt. Das Buch musste mehrmals aufgelegt werden.

Aber auch der Regisseur Kazimierz Kutz, ein polnisch gesinnter Oberschlesier, dem sein in den siebziger Jahren hergestellte Film über Oberschlesien u.d.T. „Das Kronenjuwel“ (Perla w koronie) über das Leben einer Bergarbeiterfamilie um die Jahrhundertwende viel Sympathie eingebracht hatte, beklagte in mehreren Fernsehsendungen mit hohen Einschaltsquoten, den unerhörten Niedergang Oberschlesiens nach dem Krieg. Über Oberschlesien zu reden, ist wie über Golgota reden, sagte Kutz. Das Regime habe in Oberschlesien ein wahres Apartheid-Regime eingeführt und die Einheimischen wie seinerzeit die Amerikaner die Neger behandelt. Die Empörung des bekannten Regisseurs und sein authentischer Schmerz überzeugten. Kutzs Äußerungen wurden nach der Wende oft gedruckt und ihm selbst die Ehrendoktorwürde der Universität Oppeln verliehen. ( „Ten odrazajaco piekny Slask“- das abstoßend schöne Schlesien. Polska- Slask, Gazeta Wyborcza 15-16.03.97). Allerdings lebt auch Kutz nicht in Oberschlesien sondern in Warschau.

Ähnlich bestürzt über den Niedergang Oberschlesiens, über die auffallende Stagnation seiner Heimatstadt Gleiwitz, zeigte sich der Schriftsteller Horst Bienek - der zuvor in seiner Trilogie ein Oberschlesien nach seinen Vorstellungen kreiert hatte - als er nach einem halben Jahrhundert seine Geburtsstadt besuchte. Er beschrieb seine Eindrücke in seinem letzten Buch „Reise in die Kindheit, Wiedersehn mit Oberschlesien“ (München 1988).

Die renommierte polnische Emigrantenzeitschrift „Kultura“ bot einem authentischen Ober- schlesier, dem Autor, Stanislaw Bieniasz, der lange Zeit zwischen einer deutschen und einer polnischen Option schwankte, den Rahmen für eine ausführliche und wirklichkeitsbezogene Aussage zur Situation im Lande. Unter dem Titel : „Oberschlesien, was trennt, was sollte verbinden“ ( Kultura 4., Paris,1990 – Gorny Slask – co dzieli a co powinno laczyc), beklagte Bieniasz vor allem die gravierenden Rechtsverletzungen des sozialistischen Regimes der Volksrepublik Polen der Bevölkerung Oberschlesiens gegenüber, wie auch die gigantische Umweltzerstörung. Er wies aber auch auf die Zerstörung althergebrachter deutscher Traditionen in der Region hin und stellte fest, dass die deutsche Sprache und Kultur untrennbar zum oberschlesischen Kulturerbe gehören. Bieniasz charakterisierte mit großer Kompetenz die komplizierten ethnischen Gegebenheiten in Oberschlesien. Der Autor, der selbst einige Jahre in der Bundesrepublik gelebt hatte und daraufhin wieder nach Oberschlesien zurückgekehrt war, sprach sich für ein Zusammenfinden der zersplitterten Bevölkerung aus und für ein friedliches Zusammenleben der Alteingesessenen und der Zuwanderer wie auch eventueller Heimkehrer. Leider blieb Bieniasz´s Stimme vereinzelt. Stanislaw Bieniasz verstarb früh.

Nach der Wende kam so manches zur Sprache, was bisher geheim und unter Kontolle gehalten worden war Manche Enthüllungen schockierten. Man hatte sich in einer neuen Wirklichkeit zurechtzufinden. Die Ratlosigkeit im Anbetracht des Scherbenhaufens des Zeitgeschehens war groß. Der Prozess der Annäherung und Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen erwies sich in diesem jahrzehntelang intensiv antagonisierten Raum besonders schwierig. Einerseits stimmten die Aussichten auf das Aufheben der Front des Hasses, der durch die Biografien verlief und Unzähligen das Leben verdarb, optimistisch, anderseits brachte die neue Situation auch neue Enttäuschungen mit sich, manche Hoffnungen waren zu groß, andere gar unrealistisch. Neue Erkenntnisse standen an.

Besonders Gespräche zwischen deutschen Oberschlesiern und polnisch gesinnten Oberschlesiern wären notwendig gewesen. Aber niemand war so sehr darauf bedacht, die deutsche Minderheit zu ignorieren und zu bekämpfen wie ihre polnisch gesinnten Landsleute. Hier erwies sich die Bruchstelle, an der alte und neue Verletzungen zusammenkamen , besonders schwer heilbar. Natürlich hörten auch die zugewanderten Polen, das Mehrheitsvolk, nicht gern von der Schuld, die sie als willige Vollstrecker eines verbrecherischen Systems auf sich genommen hatten. Man versuchte gemeinsam die Einheimischen deutscher Option klein zu reden, lächerlich zu machen, sie zu diffamieren. Den Polen und den polnisch gesinnten Oberschlesiern standen alle Medien zu Verfügung. Den Deutschen aber nicht. Die ihrer Intelligenz und ihrer Sprache weitgehend beraubte Gruppe war nur bedingt imstande, sich überzeugend zu artikulieren und wehren.

Dazu kam die Zurückhaltung der Bundesrepublik, die von den Deutschen in Oberschlesien vor allem Respekt für das Mehrheitsvolk forderte. Ein schockierendes Erlebnis für die, die Solidarität erwartet hatten und meinten, für ihr Ausharren in der Heimat nun belohnt zu werden. Es war aber für die Republik, die mit der Wiedervereinigung beschäftigt war, nicht der richtige Moment, Solidarität mit dem tragischen Nachkriegsschicksal Deutscher zu bekunden, und sich mit dem ihnen widerfahrenen Unrecht auseinanderzusetzen, das von dem Volke verursacht wurde, mit dem man gerade Grenzabsprachen traf, von denen die internationale Anerkennung des vereinigten Staates abhing. Im übrigen war das Thema der Vertreibung, dem die unter Polen verbliebenen Deutschen angehörten, seit langem in der Bundesrepublik verdrängt und marginalisiert worden.

Den Menschen in Oberschlesien wurde kurzerhand die Rolle der Brückenbauer zwischen Deutschen und Polen zugeteilt. Sie sollten versöhnend wirken, nicht aber über erfahrenes Unrecht klagen. Und weil sie den Erwartungen nicht entsprachen, denen sie nicht entsprechen konnten, wurden sie als konservativ oder gar als rechtsradikal abgestempelt.

Die Polen verzeichneten die Haltung der Deutschen ihren Leuten gegenüber zunächst überrascht, dann aber zog man gern die Konsequenzen. Eine dergleiche Haltung hatten die patriotischen Polen natürlich nicht erwartet. Der polnische Staat umgab seine Minderheit in Litauen mit sorgsamster Obhut.

Ein wichtiges Thema der polnischen Medien in Oberschlesien nach der Wende war die Umweltzerstörung, die das sozialistische Regime des Volksrepublik Polen in Oberschlesien hinterlassen hatte. Jetzt durfte über das ganze Ausmaß des desaströsen Niedergangs der einst blühenden Region offen gesprochen werden. Man berichtete nunmehr offiziell, was alle ohnehin wussten, dass es lebensgefährlich geworden war, in der oberschlesischen Industrieregion zu leben. Dass hier die Luft von Schadstoffen verseucht und das Wasser nicht trinkbar war. Dass 45 % aller Schwangerschaften pathologisch verliefen, die Kinder miss- gebildet zur Welt kamen, die Säuglingssterblichkeit überdurchschnittlich hoch und die Lebenserwartung niedrig wie sonst nirgendwo in Europa war.

Die Infrastruktur in diesem Teil Oberschlesiens war hoffnungslos zerstört. Die Region, die ein Viertel des Nationaleinkommens Polens erarbeitete, durfte nur 12 Prozent der erarbeiteten Werte für sich behalten. Der Löwenanteil wurde von Warschau geschluckt. Die Städte, deren Einkommen größer war als das einiger anderer polnischer Woiwodschaften zusammen, standen dadurch vor leeren Kassen. Die reichste Region Polens war zur elendsten degradiert worden. In fast allen Lebensbereichen war die einst führende oberschlesische Industrieregion hinter die übrigen Regionen Polens zurückgefallen, sogar das Verkehrsnetz, das zuvor das beste gewesen war. In der Kultur und im Schulwesen wie auch im Gesundheitswesen lag Oberschlesien am grauen Ende der Tabelle der polnischen Regionen. Nur in der Emmission von Schadstoffen hielt das Land eine absolute Spitzenposition. Bald nach der Wende wurde Oberschlesien als das weltweit am stärksten von Umweltschäden zerstörte Land der Welt bezeichnet. Ausführlich schrieb darüber Jan Dziadul in der Zeitschrift „Polityka“ ( 01.04 1989) und „Polityka“ (17.11. 1990) - u.d.T. „Der schlesische Kessel“ ( Slaski kociol).

Und sogar der dem Thema Oberschlesien wenig zugeneigte „Stern“ veröffentlichte am 5.6.91 einen ausführlichen Report über die erschütternde Umweltzerstörung in der ober- schlesischen Industrieregion und über die deutsche Minderheit. Darin heißt es: Die Luft um die Stahlhütte und Kokerei von Beuthen-Bobrek enthält sieben Mal mehr Staub als es die Normen zulassen, 35 -Mal mehr Blei und 3000-Mal zu viel krebserzeugendes Benzypyren.

Als unaufhaltsame Agonie seit 1922 - seitdem Polen die Industrieregion für sich beansprucht und in Besitz genommen hatte - bezeichnete der polnische Journalist Janusz Tycner den Niedergang Oberschlesiens. Aus dem Bericht dieses Journalisten hörte man kaum Chancen auf Besserung heraus. (Hoffnungen im Schrott, Die Zeit , 21.11.97). Man hat zwar inzwischen versucht, die Schadstoff-Emissionen einzudämmen, schreibt Tycner, alte Industrieanlagen zu erneuern und einige neue zu errichten. Erhebliche EU - Gelder wären in die Region geflossen, aber es wären circa 500 Milliarden DM vonnöten, um die Schäden, die das vergangene Regime hinterlassen hat, zu beheben, so Janusz Tycner.

Die jungen Menschen, die hier lebten, die Jugend der einheimischen Bevölkerung hätte randalieren können, aufbegehren, doch wer konnte, verließ das Land. Die jungen Leute, die das Land verließen, um sich in der Bundesrepublik eine neue Existenz aufzubauen, wurden von denen, die das Desaster mit verantworteten diffamiert. Sie verließen das Vaterland „aus materiellen Gründen“, schimpften Polen von Glemp bis Jaruzelski, wie auch Marek und Simonides. Dazu wäre zu sagen, es sei jedem jungen Menschen unbenommen, dort zu leben, wo er frei sein und sich und seinen Kindern eine optimale Existenz schaffen kann. Aber die jungen Leute gingen auch, weil ihr Land von einem menschenfeindlichen Regime unbewohnbar gemacht worden war und weil sie sich nicht mehr zu Hause fühlten im eigenen Land. Sie wollten der entwürdigenden Behandlung als Menschen zweiter Kategorie entgehen, der Rolle der Parias, die nichts im Eigenen zu sagen haben. Viele sahen aber auch nicht ein, das deutsche Kulturerbe im weiten Sinne für sich und ihre Kinder aufzugeben. Gemeint war dabei der Anteil an den zivilisatorischen Errungenschaften der Deutschen, auf die man einen rechtlich verbrieften Anspruch hatte, aber auch die deutsche Sprache und die deutsche Kultur, zu denen man ihnen den Zugang verwehrt hatte

Dazu muss hinzugefügt werden, dass ein großer Teil dieser zumeist jungen Aussiedler, die nach der Wende nach Deutschland kamen, keine deutliche nationale Option vertrat, sie waren weitgehend assimiliert gewesen. Sie definierten sich als Angehörige der einheimischen Bevölkerung, die sich zu einer ethnischen, einer regionalen Zugehörigkeit als Oberschlesier brkannten. Besonders die jungen Leute in der Industrieregion waren stark dem Deutschen entfremdet. Auch das hatte Gründe. In Ostoberschlesien war man einem stärkeren Polonisierungszwang ausgesetzt gewesen als im Oppelner Land. Zum einen, weil in dort bereits seit 1921 polonisiert wurde, zum weiteren hat es hier - als Folge der sogenannten Volkslisten - noch stärkere Repressionen nach 1945 gegeben. Und - man lebte in der Industrieregion enger mit den zugewanderten Polen zusammen. Meistens Tür an Tür in den Wohnblocks. Man befand sich in den großen Industriebetrieben in abhängigen Arbeitsverhältnissen. Sich als Deutscher zu bekennen, war hier viel gefährlicher als in der ländlichen Oppelner Gegend.

So gingen die jungen Oberschlesier in den Westen, wie einst ihre Vorfahren gen Osten zogen, um für sich und ihre Kinder ein besseres Leben zu gewinnen. Jetzt war im Westen „ eine bessere Stätt“, wie es im alten Siedlerlied des Mittelalters vom Osten hieß.

Unter denen, die in Deutschland eine bessere Chance für sich erhofften, waren dieses Mal zahlreiche qualifizierte Fachkräfte in guten Positionen, Handwerker und Akademiker. Auffallend viele Mediziner waren unter den Auswanderern. Viele gaben stabile Lebenssituationen auf, Häuser und gute Erwerbsmöglichkeiten. Aber nicht nur die Industrieregion war von der Massenauswanderung betroffen. Auch im Oppelner Land entvölkerten sich Dörfer und Städte. Überall mussten Krankenhäuse Abteilungen schließen, die Zahl der Schüler schrumpfte dramatisch. Oft blieben alte hilfsbedürftige Eltern zurück. Allenorts gab es leerstehende Häuser.

Vorerst hielten sich die meisten Rückkehrmöglichkeiten offen. Aber auch nach zehn Jahren kehrte kaum jemand zurück – die Spätaussiedler, die im Westen eine gute Betreuung erfuhren, integrierten sich zumeist schnell und zufriedenstellend. Und in Polen sah die Zukunft nach wie vor nicht rosig aus. Dazu kommt, dass sich im demokratischen Deutschland jeder als Deutscher oder als Pole oder als Oberschlesier bekennen konnte, hier war das kein Problem.

Zu einer weiteren Nebenerscheinung der liberalisierten Ausreisepraktiken wurde die zunehmende Erwerbsmigration, die bald einen bedrohlichen Massencharakter annahm.

Die jungen Oberschlesier beantragten nach der Wende die deutsche Statsangehörigkeit und nutzten sie, um in Deutschland Arbeit aufzunehmen. Diese Leute versuchen beides zu verbinden – in Deutschland Geld zu verdienen und in der Heimat den Boden für ihre Existenz zu bewahren. Die zweite Staatsangehörigkeit, die deutsche, war ein wichtiges Privileg. Nach deutschem Recht hatten die Nachkommen der Deutschen in Oberschlesien ihre deutsche Staatsangehörigkeit behalten. Fortab waren sogar Ehekandikaten mit dem deutschen Pass, oder wie man sagte: „ mit der Abstammung“ ( z pochodzeniem) auf dem Heiratsmarkt auch von jungen Polen und Polinnen heiß gefragt.

Doch das an sich Positive wirkt sich fatal für die Region aus. Angenommen wird, dass schätzungsweise circa 200 000 junge Menschen ständig in Deutschland arbeiten. Zwar wird das Geld in der Heimat vor allem in den Bau neuer oder die Renovierung alter Häuser angelegt, aber diese jungen Leute nehmen weder am kulturellen noch am politischen Leben teil. Sie tragen kaum zur Entwicklung des Landes bei. Ihre Stimmen fehlen bei den Wahlen. Sie haben weder Interesse an einer Weiterbildung noch zunächst an der Gründung einer zukunftsträchtigen Existenz. In den meisten Fällen sind sie nicht einmal am Erwerb der deutschen Sprache interessiert. Sie leben in Trennung von ihren Familien und vegetieren in der Ferne oft jahrelang unter entwürdigenden Verhältnissen.

Selbst Erzbischof Nossol zeigte sich von dieser Entwicklung beunruhigt und warnte in einem Hirtenbrief im Mai 2001 vor einem Oberschlesien ohne Oberschlesier. Vor der drohenden Zerrüttung der Familien durch die Abwesenheit der Väter und mahnte, den materiellen Verdienst nicht vor eine sinnvolle Weiterbildung zu stellen, vor das Erlernen der Sprache des Gastlandes und vor die Errichtung einer stabilen Existenzgrundlage für die Zukunft.

Auf diese Weise setzte sich die Zersplitterung der ohnehin dramatisch aufgeriebenen Bevölkerungsgruppe nach der Wende fort. Eine ganze Bevölkerungsgruppe lebt sozusagen in der Luft, man hält den familären Zusammenhalt aufrecht, indem man ständig mit dem Auto fast tausende Kilometer hin und her fährt und allabendlich Telefon-Gespräche führt. Abends sind die Linien der Billiganbieter von Telefonverbindungen ständig überlastet. Das Phänomen betrifft übrigens sowohl die Aussiedler wie auch die Erwerbspendler. Man besucht sich ständig insbesondere zu den großen kirchlichen Feiertagen, zu Familienereignissen wie Hochzeiten, Taufen und Kommunionfeiern und nimmt dabei oft kilometerlange Staus an den Grenzüber- gängen in Kauf. Dennoch ist eine Entfremdung unvermeidlich.

Auch Akademiker, insbesondere die Gelegenheit hatten, in Deutschland zu studieren, kehren ihrem Land den Rücken, wenn sich ihnen eine Möglichkeit bietet im Westen, eine Existenz aufzubauen.

Allerdings ist es nichts Ungewöhnliches, dass die jungen Oberschlesier dem Sog des westlichen Wohlstands erliegen. Sie denken nicht anders als junge Deutsche und junge Polen – man gibt sich pragmatisch – man will im Wohlstand leben. Die heutige Jugend denkt in europäischen, nicht in nationalen Kategorien. Die meisten jungen Oberschlesier haben die Nase voll von der Kompliziertheit ihres ererbten Lebensraumes. Sie wollen normale Europäer sein und das bedeutet für sie vor allem – Geld verdienen. Sie wollen ein besseres Leben.

Aber der Garant für ein besseres Leben ist für sie Deutschland, nicht Polen. Deutschland ist, wie in den Jahrhunderten zuvor, der Inbegriff des besseren Lebens für den Oberschlesier. In den vergangenen Jahrhunderten haben die Deutschen immer wieder den westlichen Fortschritt ins Land gebracht und einmal ums andere für einen Aufschwung gesorgt. Heute aber wendet sich der Trend gen Westen. Es ist eine verhängnisvolle Tendenz. Der Verlust der Jugend bedeutet eine weitere Schwächung der ohnehin geschwächten Region. Oberschlesien leidet sowohl unter der Abwanderung wie auch unter der Erwerbsmigration der jungen Einheimischen. Und man überlässt dadurch das Land endgültig den nach dem Krieg Zugewanderten

Gerade die jungen Oberschlesier, die weitgehend assimiliert und mit den Polen vertraut waren, hätten im demokratischen Lande einiges bewirken können. Mit ihnen hätte es gelingen können, ein regionales Selbstbewusstsein wiederzubeleben, um in weiterer Perspektive in Oberschlesien eine gleichberechtigte europäische Region zu schaffen. Ein Oberschlesien, in dem unter demokratischen Vorzeichen alle Optionen - auch eine deutsche - zugelassen wären.