Die Autorin Renata Schumann beschreibt in ihrem unlängst erschienenen Buch u.d.T. „Zwischen den Mahlsteinen
der Geschichte - Oberschlesien im Zeitenwandel“ (Senfkorn Verlag 2003) eine europäische Nachkriegstragödie, die
der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben ist.
Die Autorin stellt sachkundig das Schicksal der nach 1945 in Oberschlesien verbliebenen Bevölkerung dar,
insbesondere aber das Bemühen dieser Bevölkerungsgruppe um den Wiedergewinn ihrer Identität nach der Demokratisierung
Polens – in den Jahren 1989 - 2001.
Die Autorin hat diese Ereignisse zum Teil selbst erlebt, sie siedelte erst 1983 in die Bundesrepublik über und sie
zitiert in ihrem Buch häufig polnische Publikationen, die nach der Wende zu diesem Thema erschienen sind.
In Oberschlesien war ein Teil der Bevölkerung nach 1945 von der Vertreibung ausgenommen worden, weil man davon
ausging, die Grenzbevölkerung wäre geeignet für eine Polonisierung. Viele wurden zurückgehalten, um die Produktions
fähigkeit der Industrie aufrechtzuerhalten. Andere nahmen die Möglichkeit zu bleiben wahr, in der Hoffnung auf eine
baldige Änderung der Situation, die man anfangs für unhaltbar hielt.
Die Polen übernahmen 1945 Oberschlesien, um das sie bereits 1921 gekämpft hatten, unter der Vorherrschaft der
Sowjets und begannen mit den Methoden eines totalitären Regimes die Bevölkerung dem Polentum zuzuführen. Das
bedeutete in den ersten Jahren Entrechtung, harte Repressionen wie Vertreibungen und Enteignungen, Verschleppungen nach
Sibirien und Konzentrationslager, die man als Arbeitslager bezeichnete. Doch in diesen „Arbeitslagern“
wurden auch Kinder und Greise untergebracht und viele kamen ums Leben, oder blieben krüpel ihr Leben lang.
Vom ersten Tag der polnischen Herrschaft wurde mit einem Dekret Alexander Zawadzkis die deutsche Sprache in
Oberschlesien streng verboten.
Eine lange Leidensgeschichte nahm ihren Anfang. Spuren deutscher Anwesenheit wie auch zahlreiche Kulturdenkmäler
wurden vernichtet, oder nach Warschau gebracht. Es gab keine deutschen Schulen, keine Zeitungen, für Deutschsprechen
wurde hart bestraft. Deutsch wurde auch in den späteren Jahren in höheren Schulen in Oberschlesien nicht unterrichtet,
obwohl Deutsch sonst in Polen eine der beliebtesten Fremdsprachen war. Dazu begannen sich die Lebensbedingungen
zunehmend zu verschlechtern.
Die Reaktion war eine anhaltende Ausreisebereitschaft der Bevölkerung, die bis 1989 und darüber hinaus andauerte.
So wurde in Oberschlesien eine Bevölkerung, die seit 700 Jahren friedlich im Lande lebte, in ihren Grundlagen zerstört
– cirka siebzig Prozent vertrieben oder ausgesiedelt, weitere zigtausende kehrten freiwillig dem Land, das sich
ihnen entfremdet hatte, den Rücken. Die Verbliebenen wurden ihrer hergebrachten Kultur und Sprache entfremdet. Sie
wurden zu Vertriebenen aus ihrer Identität, wie Schumann schreibt. Trotz allem organisierte sich nach 1989 eine
deutsche Minderheit und andere Vereine, die für den Rückgewinn einer eigenen Identität eintraten.
Die Autorin analysiert die Struktur der im Lande verbliebenen nunmehr als Autochthone bezeichneten oberschlesischen
Bevölkerung. Von denen hatte sich ein Teil nach 1945 zum Polentum bekannt und wurde vom Regime mit Privilegien bedacht,
den anderen wurde die polnische Staatsangehörigkeit oft gegen ihren ausdrücklichen Willen aufgezwungen und sie wurden
als Bürger zweiter Kategorie behandelt. Viele assimilierten sich, andere zogen es vor auszusiedeln.
Die Abhandlung beginnt mit einer Skizze der Geschichte des Landes.
Die Autorin erwähnt die deutsche Besiedlung Schlesiens im 13. Jh. ( erste erhaltene Gründungsurkunde - Leschnitz
1217) , widmet einen Teil der Arbeit der Plebiszitzeit und dem Bruderkrieg von 1921, als Polen zum ersten Mal
Oberschlesien für sich beanspruchte, einen weiteren den tragischen Geschehnissen nach 1945 und der ein halbes
Jahrhundert anhaltenden Unterdrückung.
Der Hauptakzent der Arbeit fällt auf die zehn Jahre nach der Wende, die vom Gewinn einer politischen Repräsentanz
und einem Ringen um Gleichberechtigung im Lande gekennzeichnet waren.
Der Landwirt Johann Kroll aus Gogolin hatte mit seiner Unterschriftenaktion cirka dreihundert tausend Stimmen für
die Zulassung einer deutschen Minderheit gewonnen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es einen deutschen Verein
durchzusetzen. Man forderte vor allem deutschen Gottesdienst und Deutsch in den Schulen. Der heutige Erzbischof Alfons
Nossol trat für das Recht auf die „Sprache des Herzens“ im Gottesdienst ein, er argumentierte, dass es in
Oberschlesien bis zu bis Juni 1939 auch polnischen Gottesdienst in Oberschlesien gegeben hatte.
Überraschend gewann die deutsche Minderheit an politischer Bedeutung und durfte ihre Vertretung in den Sejm und in
die Woiwodschaftsbehörden entsenden. Viele Oberschlesier übernahmen Funktionen in den Verwaltungen der mittleren
Ebene. Trotz großer Schwierigkeiten organisierte sich ein Kulturleben – zweisprachige Medien, unzählige Chöre
und Tanzgruppen, eine mobile Leihbibliotek, Kulturhäuser und ein Haus der deutsch-polnsichen Zusammenarbeit entstanden.
Aber auch oberschlesische Verbände konstituierten sich, denen vor allem die der deutschen Sprache und Kultur
entfremdete akademische Jugend angehört.
Die Autorin schließt ihren Zeitbericht mit einem Blick in die Zukunft, die sie als weder hoffnungsfroh noch
hoffnungslos sieht.
Es gehe vor allem darum, so Schumann, dass sich die einheimische Bevölkerung aufraffen würde, um sich mit ihrem
historischen Erbe vertraut zu machen, um auf dieser Basis die Zukunft zu gestalten.
Renata Schumann, die 1979 in Breslau/Wroclaw promoviert hatte, ist in der Bundesrepublik mit zahlreichen
Publikationen über Oberschlesien in Erscheinung getreten. Sie veröffentlichte auch einen Erzählband über
oberschlesische Schicksale und einen Roman über die Hlg. Hedwig von Schlesien
Das wissenschaftlich bestens untermauerte und essayistisch geschriebene Buch ist eine empfehlenswerte Lektüre für
alle, die sich für das komplizierte Schicksal Oberschlesiens interessieren.
Das Buch kann man beziehen unter der Tel-Nr: D - 03581/410956 und PL - 077/4615993