Die Zerrissenheit, in die die Bevölkerung Oberschlesiens durch die dramatischen Zeitläufe geraten ist, trägt dazu bei,
dass Außenstehende ihrem Schicksal zumeist verständnislos gegenüber stehen. Aber vor allem machen die internen Spaltungen den
Oberschlesiern selbst zu schaffen. Die einfache Einsicht bleibt aus - dass das Überleben der im Lande verbleibenden einheimischen Bevölkerung,
mit einer durch die Jahrhunderte geprägten Identität, sich nur durch ein Zusammenfinden vollziehen kann: Aller Autochthonen, wie die
zugewanderten Polen nach 1945 die Einheimischen nannten.
Heute macht diese einheimische Bevölkerung Oberschlesiens gerade mal 30% der gesamten Bewohner aus. Sie ist also eine
große Minderheit. Sie könnte Einfluss auf die Ereignisse im Lande nehmen - wenn sie konsolidiert wäre. Sie ist es aber nicht.
Der Nährboden aller Missverständnisse ist die Propaganda des totalitären Staates, der ein halbes Jahrhundert eine
intensive Gehirnwäsche betrieben hat, um einer komplizierten Wirklichkeit die Vorstellung eines einheitlich polnischen Oberschlesiens überzustülpen.
Fünfzig Jahre lang wurden die Autochthonen von ihrer hergekommenen Identität ferngehalten - die deutsche Sprache war verboten, die
deutsche Geschichte und Kultur des Landes wurde verschwiegen. Das hinterließ Spuren.
Um die Spaltung zu überwinden, müsste vor allem mehr Klarheit über die Geschichte des Landes und seiner Bevölkerung
herrschen.
Heute wäre es die dringlichste Aufgabe, sich vor allem die Ursprünge der Trennungen und Spaltungen einer historisch
gewachsenen und bis ins 19.Jh. weitgehend homogenen Bevölkerung bewusst zu werden.
In Kürze wäre dazu zu sagen: In Oberschlesien lebte seit der Besiedlung nach deutschem Recht im 13. Jh. eine
deutsch-slawische Mischbevölkerung, die sich siebenhundert Jahre unter dem Einfluss der deutschen Kultur und Geschichte entwickelte. Die
Einheimischen waren Slawen aber durchaus keine Polen. Die schlesisch-slawische Sprache hielt sich besonders in den Dörfern. Oft fielen auch
deutsche Siedlungen dem Slawentum der Umgebung anheim. In den Städten sprach man zumeist deutsch.
Mit Friedrich dem Großen begann eine Neubesiedlung und eine intensive Industrialisierung des Landes. Kurioserweise wurde
die polnische Sprache erstmals durch eine Verfügung der preußischen Regierung im Jahre 1787 in den Volksschulen eingeführt. Die Lehrer
und Pfarrer wurden verpflichtet die polnische Sprache zu erlernen. Es ging der Regierung darum, dem Volke in einer ihm verständlicheren
Sprache Bildung beizubringen. Erst Bismarck drehte mit seiner Politik des Kulturkampfes das Ruder um 180 Grad herum. Eine intensive
Germanisierung begann, die nunmehr Widerspruch weckte.
Im ausgehenden 19.Jh. geriet Oberschlesien an den Rand eines verhängnisvollen Strudels des Zeitgeschehens.
Mit dem Bestreben einen unabhängigen Staat wieder herzustellen, begann das Interesse der Polen an Oberschlesien, wo
inzwischen eines der stärksten Industriezentren Europas entstanden war. Eine intensive propolnische Propaganda begann, die sich alle
sozialen und konfessionellen Spannungen, insbesondere im Industriegebiet zunutze machte. Auch die ethnischen Verhältnisse hatten sich in
der Zeit kompliziert. Es waren Führungskräfte aus Deutschland in die Region gekommen aber auch Tausende Polen aus Kongresspolen als
Arbeiter ins oberschlesische Industriegebiet eingewandert.
Als erster oberschlesische Agitator fürs Polentum trat Adalbert - Wojciech Korfanty auf, ein begabter Bergmannssohn, der
seine Ausbildung und Förderung einem deutschen Pfarrer verdankte.
Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten die Polen Oberschlesien ihrem neuerrichteten Staate einzuverleiben. Die besiegten
Deutschen protestierten und veranlassten ein Plebiszit (1921). Die Polen versuchten vollendete Tatsachen zu schaffen. Ein verheerender
Bruderkrieg begann - die polnischen Aufstände in Oberschlesien. Die Deutschen organisierten einen Selbstschutz, der die Aufstände
erfolgreich abwehrte. Ein deutscher Sieg auf dem Annaberg entschied den Ausgang der Kämpfe. Eine interalliierte Kommission befriedete das
Land.
Obwohl das Plebiszit zugunsten Deutschland ausgefallen war, wurde ein Teil des Landes durch ein internationales Gremium
Polen zugesprochen. Es waren die Agrarregionen um Rybnik und Pless, die mehrheitlich für Polen gestimmt hatten, aber auch die großen
Industriestädte, wo sich die Bevölkerung mit überwiegender Mehrheit (Kattowitz - 80% und Königshütte 74% ) für Deutschland
ausgesprochen hatte. Eine deutsche Minderheit in Polen, der ein überaus dramatisches Schicksal bevorstand.
Die Folgen des Bruderkrieges waren tragisch. Eine bisher friedlich lebende Bevölkerung fiel in eine bis heute unüberwundene
Spaltung. Dabei ging die Trennlinie oft mitten durch die Familien, oft mitten durch die Menschen selbst, die unter dem Einfluss der
Gegebenheiten ihre Optionen wechselten. August Scholtis, der ureigenste Schriftsteller Oberschlesiens, beschrieb die Tragödie einer Mutter,
die auf der Suche nach ihren Söhnen durch Land zog - der eine war beim Selbstschutz ums Leben gekommen, der andere bei den polnischen Aufständischen.
Durch die Einführung der Volkslisten durch die Nationalsozialisten wurde die Spaltung festgeschrieben. Die Deutschen in
Ostoberschlesien, die sich während des Krieges zu Deutschland bekannten, galten nach dem zweiten Weltkrieg als Verräter der polnischen
Sache. Besonders sie sind zu Tausenden in den polnischen Lagern für Deutsche ums Leben gekommen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden circa 70% der Bevölkerung Oberschlesiens vertrieben und ausgesiedelt. Unzählige
verließen später freiwillig die ihnen entfremdete Heimat.
Etwa ein Drittel der Bevölkerung nahm man von der Vertreibung aus. Es waren sowohl Deutsche wie auch Oberschlesier eines
ethnischen Bekenntnisses ohne deutliche nationale Option, aber auch Bekenntnispolen, vor allem die, die an den Aufständen teilgenommen
hatten oder sich in diese Tradition stellten. Viele von ihnen wurden privilegiert und als Vertreter des gesamten Bevölkerung dargestellt.
Sie traten unter dem totalitären Regime oft feindselig den deutschen Oberschlesiern gegenüber auf.
Die Mehrzahl der im Lande Verbliebenen, von den Zugewanderten als Autochthone bezeichnet und behandelt, wurden einer
rigorosen Zwangs assimilierung unterworfen. Sein Deutschtum zu bekennen bedeutete nach dem Krieg Lebensbedrohung, Verlust von Eigentum,
Vertreibung, später Entrechtung und Benachteiligung.
Heute lebt der größte Teil der ehemaligen Bevölkerung Oberschlesiens in Deutschland, sie sind Deutsche wie alle
anderen auch. In Polen aber haben es die Reste der einheimischen Bevölkerung noch immer schwer, zu ihrer Identität zurückzufinden. Ein
Teil bekennt sich zur deutschen Minderheit, ein anderer zu einer ethnischen oberschlesischen Identität. Es ist ein Drama unserer Tage, dass
sich diese beiden Gruppen misstrauisch gegenüber stehen, denn es ist eine Bevölkerung, die durch politische Entwicklungen in Zerrissenheit
und Verstreuung gestoßen wurde.
Manche Kuriositäten bleiben durch Gesetzgebung festgeschrieben. So könnte es nach geltendem deutschen Recht durchaus
vorkommen, dass in einer Familie der Bruder deutsche Kinder hat, die in den Vorteil des Aussiedlerstatus in der Bundesrepublik gelangen dürfen,
während seine Schwester - die einen polnischen Mann geheiratet hat - Kinder aufzieht, die in Deutschland als Polen gelten. Dabei lehrt die
Beobachtung, dass gerade Frauen, die Polen geehelicht haben, ihren Kindern die deutsche Sprache und deutsche Traditionen weitergegeben
haben. Ganz einfach deshalb, weil sie es eher durften, als die als die in Polen verfemten Deutschen.
Unter anderem führt auch das dazu, dass in den Gremien der Bewegung für eine unabhängiges Oberschlesien (RAS)
auffallend viele bestens ausgebildete junge Leute aus gemischten Familien zu finden sind, die nicht die Möglichkeit haben nach Deutschland
auszuwandern.
Doch gerade junge gut ausgebildete Oberschlesier, die bleiben wollen und verantwortungsvoll über die Zukunft ihres
Landes nachdenken, sind das Wertvollste, das dass Land besitzt
Diese Jugend Oberschlesiens ist die eigentliche Hoffnung für eine verantwortungs- bewusste Führung des Landes in
Zukunft. Sie fragt nach der Geschichte und sucht die zerrissene Verbundenheit wieder herzustellen. Um sie abzudrängen, unterstellt man ihr
separatistische Tendenzen, die sie in Wahrheit gar nicht vertreten, obwohl man andererseits sehr wohl den 1921 versprochenen Autonomiestatus
für Oberschlesien innerhalb des polnischen Staates einmahnt.
Obwohl die Ergebnisse der Volkszählung in Polen bisher nicht veröffentlicht wurde, haben sich vermutlich mehr
Oberschlesier zu einer oberschlesischen Nationalität bekannt, als zur deutschen.
Die deutsche Minderheit wäre gut beraten, wenn sie die Oberschlesier eines ethnischen Bekenntnisses an sich ziehen und
sich insbesondere ihr kulturelles Potenzial zunutze machen würde. Denn nur der Zusammenhalt der ganzen Bevölkerungsgruppe garantiert einen
dauerhaften Wiedergewinn einer kulturellen Identität und somit einer Zukunft im angestammten Lande.
Es ist ein dringenden Gebot der Zeit, sich auf die vergessene Einheit zu besinnen.