Es ist wohl ein einmaliges Phänomen in der
Geschichte der Literatur, dass ein hochkarätiger Schriftsteller, der mit seinem Schaffen emotionell, ja, obsessiv seiner Heimat verbunden
war, in dieser nach wenigen Jahrzehnten nicht mehr bekannt ist. Von August Scholtis, dem oberschlesischsten aller oberschlesischen
Schriftsteller hat im heutigen Oberschlesien kaum jemand gehört.
August Scholtis hat wie kein anderer das Oberschlesien seiner Zeit, der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen,
beschrieben. Seine Schilderungen sind emotionell, ja, furios, die Reaktion eines schmerzlich Betroffenen. Zudem verlieh Scholtis in seinen
Werken den oberschlesischen Menschen einen unvergänglichen literarischen Ausdruck: derb, plebejisch und tragikgrotesk. Mitgefühl weckend.
Scholtis war ein Besessener seines Themas. Horst Bienek bezeichnete ihn als einen der originärsten Schriftsteller
deutscher Sprache und lobte sein bekanntestes Werk , den „Ostwind“, als Geniestück.
Auch das persönliche Schicksal des Schriftstellers August Scholtis kann als symbolisch für die tragische Zerrissenheit
und Heimatlosigkeit der Oberschlesier gelten.
1901 im südöstlichen Winkel des Landes, in Bolatitz, im sogenannten Hultschiner Ländchen, in ärmlichen Verhältnissen
geboren - entging er mit großem Lebensglück dem scheinbar vorgezeichneten Weg. Nach dem Abschluss der Volksschule sollte er - wie üblich
in seiner Umgebung - Maurer werden. Aber für diesen Beruf war der schwächliche Jüngling kaum geeignet. Da zeigte sich die Fügung allergnädigst
und er erhielt eine Anstellung als Sekretär beim Fürsten Karl Max Lichnowsky. Bei diesem gebildeten und feinsinnigen Aristokraten und
Diplomaten erfuhr der junge Mann seine entscheidende intellektuelle Prägung.
Nach dem Ersten Weltkrieg verließ Scholtis seinen der neugegründeten Tschechoslowakei zugefallenen Heimatort, doch auch
seinen neuen Wohnsitz musste er alsbald verlassen, weil dieser Landstrich nach dem Plebiszit von Deutschland abgetrennt wurde und an Polen
fiel. Er begab sich zuerst nach Gleiwitz und Oppeln, später nach Breslau, und arbeitete in verschiedenen Berufen.
Sein erster Erfolg - ein Erzählerpreis des Breslauer Rundfunks und der Schlesischen Monatshefte kann als eigentlicher
Anfang seiner wechselhaften literarischen Karriere gelten.
Bald zog es ihn in die damalige Literatur-Metropole Berlin, wo er mit seinem Erstling „Ostwind“ bekannt
wurde. Einem unkonventionellen Roman, der sein Erscheinen der Einsicht des Fischer Verlags und seines Cheflektors Oskar Loerke verdankte.
Oskar Loerke, ein bekannter und geschätzter Literaturkenner, schrieb über den „Ostwind“: „ ein merkwürdiges Buch, teils
roh und Dillethantisch, teils von volkstümlich ergreifender dichterischer Kraft“
Dieses Buch , 1932 erschienen, schildert wie kein anderes die Tragödie der oberschlesischen Menschen, die nach dem
Ersten Weltkrieg in einen Bruderkrieg hineingestoßen worden waren.
Der politische Hintergrund dieses Ereignisses war die territoriale Umgestaltung Europas nach dem Ersten Weltkrieg, Der
neuentstandene Staat Polen beanspruchte Oberschlesien für sich und versuchte, mittels geschickter Agitation, in der sich nationale und
soziale Elemente mit konfessionellen mischten, die einheimische Bevölkerung, für ihre Interessen zu gewinnen. Ein Krieg, der mitten durch
die Familien verlief, war die Folge. Ein Teil des Landes fiel daraufhin an Polen.
Nachdem Oberschlesien 1945 endgültig unter polnische Herrschaft geraten war, gab es hier kein Interesse für eine
Darstellung historischer Ereignisse aus deutscher Sicht. Literarische Darstellungen umstrittener historischer Vorgänge waren unter dem
totalitären Regime ohnehin jahrzehntelang verboten.
Es gibt bis heute keine einzige polnische Übersetzung eines Scholtis Buches.
Aber auch die deutschsprachigen Oberschlesier, in deren Bewusstsein die größere Tragödie der Vertreibung den
vorangegangen Verlust überschattet, zeigen wenig Interesse für die Werke ihres großen Landsmanns.
„Der „Ostwind „ kam seinerzeit groß heraus In Deutschland war damals die Empörung über die Teilung
Oberschlesiens noch lebendig. So erregte das Buch Aufsehen und hatte zahlreiche gute Kritiken. Doch bald wurde es von den Nazis verboten,
weil Scholtis darin auch einen Nazi verspottete.
Man kann sich für die Urwüchsigkeit des Buches begeistern, oder sich befremdet von ihm abwenden. Letztendlich liegt die
Stärke dieses Buches in der Emotionalität. Doch dürfte es kaum einen Oberschlesier geben, der sich der Magie dieses Buches entziehen könnte.
Den Helden des Buches, Kaschpar Theophil Kaczmarek, verglich die Kritik mit Till Eulenspiegel. Doch Scholtis hatte ihn
dem ureigensten Fond regionaler Gestaltungskunst entnommen - der Kiste mit den Antek und Franzek Witzen. Der Lumpensammler Kaczmarek zieht
mit seinem Wägelchen, vor das er einen Esel gespannt hat, zeitweilig auch mit einer Leier, durch das vom Bruderkrieg geschüttelte Land.
Das gibt ihm die Möglichkeit zahlreicher Beobachtungen; Begegnungen und Gespräche. Der plebejische Gesichtspunkt ist dieser Gestalt
vorgegeben und so ist es nicht zu verwundern, dass Scholtis, nicht nur die Machenschaften der Anhänger des polnischen Nationalisten,
Wojciech Korfanty, anprangert, die den armen Häuslern unredlich je eine Kuh und dazu genügend Ackerboden versprechen, sondern auch die
arroganten, das Wohl des Volkes übersehenden deutschen Magnaten kritisiert. Der nationale Konflikt, spaltet die Familien. Kaczmareks Weib
Ludwina stimmt unter dem Einfluss des Pfarrers für Polen, dieweil Kaczmarek aus einer Versammlung der polnisch Gesinnten fliehen muss, weil
er bekundet - dieses Land ist ein Land deutscher Arbeit.
Scholtis nächster Roman, „Baba und ihre Kinder“, 1934 erschienen, ist ein episches Werk - von ungeheurer
Wucht, getragen von der für Scholtis charakteristischen Hassliebe zur eigenen Herkunft, zu dem immer wieder beschriebenen Stückchen
Heimaterde. Das gleiche klein bäuerliche Milieu wie im „Ostwind „ wird dargestellt. Zweifellos ebenfalls ein Werk von starker
Überzeugungskraft und hohem literarischen Rang. Die in die Handlung eingewobenen Märchen - und Sagenmotive rücken die Gestaltung ins
Surreale und untermalen das lokale Kolorit.
Dominierend in der Erzählung ist die Titelfigur - Baba - eine in der Literatur beispiellos dastehende Frauengestalt.
Dieses kolossale Urweib, ist Mutter von dreizehn Kindern, die sie allein aufzieht. Ihr Gesicht rundet sich, wenn sie zufrieden lächelt, wie
ein Brot. Sie melkt im Dominium täglich dreimal zehn Kühe, muss aber für ihre eigene Ziege Gras stehlen. Abends füttert Baba auch ihre
Kinder ab. Täglich das gleiche - Schlickesmilch und Pellkartoffeln. Ehe sie zur Schule gehen, bekommen die Kinder einen dünnen
Getreideplatzek, auf der Ofenplatte gebraten, und Getreidekaffee dazu. Zum Schluss bringt es Baba zu einer Kuh, was sie unendlich beglückt.
Baba ist fromm, ja, sogar bigott, Hochwürden ist ihre größte Autorität. Doch zur Klärung ihrer Alltagsprobleme bemüht
sie nicht die Heiligen der Kirche, obwohl sie jeden Abend mit ihren Kindern zur Gottesmutter betet, sie nimmt Rücksprache bei Tschamutschka,
einem weiblichen Erdgeist. Tschamutschka nistet in Babas Strohsack. Babas Pritsche ist überhaupt ihr existenzielles Zentrum. Hier wurden
ihre Kinder gezeugt und geboren. Im Strohsack versteckt sie ihre Ersparnisse, später den Lohn ihrer Kinder, den sie alle brav abgeben. In
einer poetischen Passage fordert die Erde Tschamutschka auf, Baba zu helfen und segnet sie dafür.
Mit einer Flachsfabrik kommt einiger Wohlstand in die Umgebung. Doch bald müssen zwei herangewachsene Söhne Babas in
den Krieg. Sie kehren zwar zurück in die Heimat, doch hier ist inzwischen der fatale oberschlesische Bruderkrieg ausgebrochen. Baba erfährt
auf der Suche nach ihren Söhnen: Franzek hat den Tod als Selbstschutzfreiwilliger gefunden, Sefflik ist als polnischer Aufständischer ums
Leben gekommen. Auch die anderen Söhne sind von den Streitereien erfasst worden. Unfrieden ist in Babas Haus eingekehrt. Baba ohrfeigt ihre
Söhne, von denen der eine, Robärtla , für die Deutschen streitet und der andere, Jakob, darauf besteht, dass in der Kate polnisch
gesprochen werden soll.
Doch weder „Baba und ihre Kinder“ noch weitere Veröffentlichungen Scholtis´ wurden von der Kritik gewürdigt.
Das Tamtam der braunen Machthaber übertönte alles.
Scholtis emigrierte nicht, ständig bedroht pendelte er zwischen Schreibverbot und Auftragsarbeiten. Es erscheinen die
Romane „ Jas der Flieger“ ( 1935) und „Das Eisenwerk“.(1939) sowie einige Erzählbände. Einige seiner Bücher
werden ins Tschechische übersetzt.
Widersprüchlich erging es August Scholtis nach dem Krieg. Zwar gelang es ihm anfangs, sich im Literaturleben zu
etablieren, doch sein ureigener schöpferischer Impetus war gebrochen. Das oberschlesische Thema interessierte kaum jemanden mehr. Scholtis
publiziert Erzählungen Sein großes Romanprojekt „Schloss Fürstenkron „ wird erst aus dem Nachlass herausgegeben.
Erfolg hat Scholtis nur noch mit seiner Biographie „Ein Herr aus Bolatitz“ und dem Bericht „Reise nach
Polen“.
Scholtis starb 1969 vereinsamt in seiner Wahlheimat Berlin. Verehrung erwiesen ihm die oberschlesischen Schriftsteller
Hans Lipinsky-Gottersdorf und Horst Bienek, die ihn als geistigen Ziehvater betrachteten.
Es ist zu bedauern, dass August Scholtis´ Werke so wenig bekannt sind. Außer dem „Ostwind“ und dem voluminösen
Romantorso „Schloss Fürstenkron“ ist nichts in den Buchhandlungen vorhanden.
Dabei könnten die Werke dieses faszinierenden und weitgehend verkannten Schriftstellers, eines zweisprachigen
Oberschlesiers, der sich zum Deutschtum bekannte, aber seine slawischen Wurzeln nicht verleugnete, gerade heute zu einem neuen Selbstverständnis
der Oberschlesier beitragen.