Oberschlesien, einst eine deutsch-polnische Grenzregion, heute inmitten Polens, könnte und sollte eine vorbildliche
europäische Region sein. Nach der Wende hat sich hier eine deutsche Minderheit zu Worte gemeldet, der Rest einer durchs
Zeitgeschehen aufgeriebenen und verstreuten Bevölkerung. Gleichberechtigung wurde den restlichen Deutschen unter Polen
zugesichert.
Gerade dergleichen tragisch vom Zeitgeschehen getroffenen Regionen sollen in einem geeinten Europa wieder zu sich
finden dürfen. So wurde mehrfach nach 1989 verlautbar. Auch Bill Clinton erwähnte in seiner Dankesrede für den
Karlspreis in Aachen u.a. Schlesien als eine Region, die ihr historisches Antlitz zurückgewinnen sollte.
Oberschlesien, das im 20.Jahrh einen rasanten Aufschwung zur führenden Industrieregion Deutschlands erlebt hatte und
nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Deutschland und Polen geteilt wurde, war nach dem Untergang des Hitlerstaates mitsamt
den anderen bis dahin deutschen Ostgebieten Polen zugefallen.
Noch 1921 stand Oberschlesien im Zentrum der Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit. Massenkundgebungen gegen
die Abtrennung eines Teiles Oberschlesiens von Deutschland fanden allenorts statt. Gerhart Hauptmann hielt eine
flammende Rede gegen die Teilung des Landes.
Nach 1945 erfasste das Vertreibungsschicksal die Menschen dieser Region wie aller anderen auch, die die durch den
Hitler-Krieg verlorenen Gebiete verlassen mussten. Doch von hier wurden nur ein Teil der Bevölkerung aus ihren Wohnstätten
vertrieben. Anderen erlaubten die neuen Machthaber - das totalitäre Regime Volkspolens - zu bleiben, weil man sie als
Autochthone einstufte und als Polen bezeichnete. Sie sollten als Vorzeigeargument für die propagandistische Behauptung,
Polen sei auf urpolnischen Boden zurückgekehrt, dienen. Ein ähnliches Schicksal wurde den Masuren zuteil.
Man stützte sich bei der Behauptung, die Oberschlesier seien Polen, beziehungs weise germanisierte ehemalige Polen,
auf das Ergebnis des Plebiszits im Jahre 1921, als 40% der Oberschlesier für Polen votiert hatten.
Doch dabei vereinfachte man auf eine nur unter einer Diktatur mögliche Weise die wirklichen ethnischen Gegebenheiten
in diesem Grenzland.
Hier lebte nämlich seit dem Mittelalter neben den Deutschen, die mehrheitlich in den Städten wohnten, auf dem Lande
eine slawisch-deutsche Mischbevölkerung, die sich aber auch dort, wo eine schlesisch-slawische Haussprache im Gebrauch
war, ebenfalls der deutschen Kultur und der deutschen Sprache verbunden fühlte. Eine Situation, die im mittel-ost-
europäischen Raum alles andere als unüblich war. Bereits Anfang des 20.Jahrh.begannen die Polen, diese Bevölkerung an
sich zu ziehen. Man behauptete, diese slawische Bevölkerung sei polnisch. Die starke polnische Agitation und
letzendlich eine militärische Intervention 1921 bewirkte die Abtrennung eines Teils des hochentwickelten
Industriegebiets an das nach mehr als hundert Jahren Unfreiheit neuerstandene Polen.
Nach 1945 beschloss man, diese slawische Bevölkerung Oberschlesiens endgültig dem Polentum zuzuführen. Dazu
standen fortab Methoden des totalitären Regimes zur Verfügung. Daraus ergab sich eine schizophrene Einstellung zu
dieser Bevölkerung, die man einerseits zu Polen erklärt hatte, andererseits als Deutsche restriktiven Repressionen
unterwarf.
Nach den Zwangsausweisungen der Mehrzahl der Deutschen war es aber für die zunächst im Lande Verbliebenen zur
Ausreise zu spät: Der Eiserne Vorhang war gefallen. Fortab breitete sich eisernes Schweigen über das Schicksal einer
Bevölkerungsgruppe, die man damals auf eine Million schätzte. Über Entrechtung, Enteignungen, Arbeitslager und
Zwangsassimilierung. Jegliche Spuren der deutschen Anwesenheit wurden getilgt, sogar auf Friedhöfen und in Kirchen
wurden deutsche Aufschriften verschmiert oder ausgemeiselt. Denkmäler, auch das Joseph von Eichendorffs, wurden gestürzt.
Deutschsprechen war verboten. Anfangs wurde für dieses Vergehen auf der Miliz geprügelt, später hatte man mit
Schwierigkeiten am Arbeitsplatz zu rechnen. Die Kinder kamen in polnische Schulen und durften nicht deutsch sprechen,
auch wenn sie nicht polnisch sprechen konnten.
Eine beispiellose Zwangsassimilierung nahm ihren ein halbes Jahrhundert währenden Lauf, begleitet von einem mit den
verschiedenen Liberalisierungs schüben zunehmendem Exodus der Bevölkerung. Viele assimilierten sich im Polentum.
Einige von den sich zum Polentum bekennenden Oberschlesiern wurden vom Regime als Gallionsfiguren privilegiert.
Das tragische und komplizierte Schicksal der Deutschen in Oberschlesien blieb im Westen unbekannt. Sie wurden erst
als Aussiedler und Spätaussiedler in der Bundesrepublik wahrgenommen und dann auch vorbildlich versorgt.
Mit Willy Brandts neuen Ostpolitik war weiteres Wegsehen angesagt. Man wollte in der Bundesrepublik nicht zur
Kenntnis nehmen, dass es sich in Polen wie auch anderswo um repressive totalitäre Staaten handelte, denen auch
insbesondere die dort verbliebenen Deutschen zum Opfer fielen. Mit den Ostverträge handelte man lediglich die Ausreise
weiterer Tausender Deutscher aus. Rechte für Deutsche in Polen mahnte niemand ein.
Trotz allem konstituierte sich nach der Wende, im Wunderjahr 1989, eine deutsche Minderheit, eine noch immer etwa
300.000 zählende Bevölkerungs gruppe. Man verlangte vor allem Deutschunterricht in den Schulen und deutschen
Gottesdienst.
Doch auch mehr als zehn Jahre nach der Wende bleibt Oberschlesien aus der Sicht der Bundesdeutschen ein unbekanntes
Land. Hierbei machte sich bemerkbar, dass man sich in beiden Teilen Deutschlands brüsk von der Vergangenheit mit allen
ihren schwierigen Implikationen abgewandt hatte. Man wusste kaum noch etwas über die ehemals deutschen Gebiete und so
gut wie nichts über die ethnische Kompliziertheit der ehemaligen Grenzregionen. Zudem fiel das Auftauchen der deutschen
Minderheit in Polen mit dem alles überlagernden Ereignis der Wiedervereinigung und der spektakulären Selbstauflösung
der Sowjetunion zusammen.
Man könnte sich damit abfinden und der Meinung beipflichten, die deutsche Minderheit in Polen sei heute eine
Angelegenheit des demokratischen Polen, wenn sich die Situation dieser vom Zeitgeschehen geschundenen Bevökerungs
gruppe sich nicht zusehend verschlechtern würde. Man muss leider sagen: sie ist alarmierend.
Verträge zum Schutz der Minderheit wurden im Freundschaftsvertrag von 1991 zwischen Deutschland und Polen
vereinbart. Doch mit ihrer Realisierung ist es nach zehn Jahren nicht gut bestellt. Die deutsche Minderheit hat zwar
eine zweiköpfige Repräsentanz im polnischen Sejm, aber diese konnte bisher nicht einmal rechtliche Regelungen für die
Minderheiten in Polen durchsetzen. Auch die Vertretung der Deutschen im Oppelner Woiwodschaftssejm bleibt seltsam
wirkungslos. Lediglich auf der Ebene der Gemeinden und Kreisen mancht sich die Anwesenheit Deutscher positiv bemerkbar.
Aber auch das weckt sogleich Widerspruch - man malt in der Presse die Gefahr einer deutschen Dominanz an die Wand.
Es gibt inzwischen zahlreiche polnische Veröffentlichungen über das tragische Schicksal der Deutschen in Polen
zwischen 1945 und 1989, die in ihrer exakten Sachbezogenheit Respekt verdienen und das ganze Ausmaß der Tragödie der
Zwangsassimilierung schonungslos darstellen. Andererseits werden in den Medien, besonders in letzter Zeit, weiterhin
Unterstellungen zum Thema der deutschen Minderheit verbreitet, die peinlich an die Propagandahetze des totalitären
Regimes erinnern, als es Deutsche unter Polen nicht geben durfte. Das betrifft vor allem das Gebiet, wo die Minderheit
mehrheitlich lebt - das Oppelner Land und die oberschlesische Industrieregion.
Während in den großen Städten Polens - in Warschau, Danzig und Breslau ein frischer europäischer Wind weht,
verschanzt man sich in der oberschlesischen Provinz - in Oppeln und Kattowitz - hinter den alten Ideologien. Schlesien
sei ein urpolnisches Land - diese Losung aufrechtzuhalten, ist manchen patriotische Pflicht.
Das Streben der deutschen Minderheit nach Gleichstellungen, die sonst überall in Europa Minderheiten zustehen, wird
nach alterprobten Mustern abgewiegelt. Wenn also die Minderheit zweisprachige Ortsschilder verlangt, wird
dagegengehalten, es gehe hier um den Anfang territorialer Rückforderungen von Seiten der Deutschen.
Wenn man die Gleichstellung Einheimischer und Polen bei den Rentenbezügen verlangt - bisher werden Zeiten in
russischer und polnischer Gefangenschaft nicht angerechnet - ist von Forderungen besonderer Privilegien die Rede. Dabei
bekamen Polen großzügige Entschädigungen für ihre Leidenszeiten in Sibirien, Deutschstämmige - jahrzehntelang
polnische Bürger - dagegen nicht. Von der Rückgabe vom totalitären Regime konfiszierten Eigentums an polnische
Staatsbürger deutscher Abstammung darf bis heute nicht die Rede sein.
Doch insbesondere das Streben nach dem Rückgewinn einer kulturellen Identität der Deutschen , bzw.Deutschstämmigen
im Lande ist den Polen ein Dorn im Auge. Dabei entwickelt man einen nationales Sendungsbewusstsein, das sich aus
Ideologien des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nährt und in seinem Anachronismus einem ins gemeinsame
Europa strebenden Volk kaum zuzutrauen sein sollte.
Die durch die ein halbes Jahrhundert andauernde Zwangsassimilierung in ihren Artikulierungsmöglichkeiten ohnehin
stark behinderte deutsche Minderheit wird von offizieller Seite und von den Medien auf das Niveau der Volkskultur
fixiert. Alle anderen Ambitionen werden blockiert.
Die bestehenden zweisprachigen Zeitungen werden von deutscher wie von polnischer Seite gehalten, keine Polemik
aufzunehmen. In den elektronischen Medien gibt es ständig neue Schwierigkeiten eine Präsenz zu behaupten. Eine
Radiofrequenz wird der Minderheit nicht zugestanden. Eine Fernsehsendung wurde zerstört und darf nach zähem Ringen
neuerdings wieder mit einigen Minuten zur schlechtesten Zeit ausgestrahlt werden. Das Woiwodschaftsamt in Oppeln fördert
Kultureinrichtungen der Minderheit mit weniger als einem Prozent des allgemeinen Etats, und das, obwohl die Deutschen im
Lande gute Steuerzahler sind. Es gibt zwar Lichtpunkte, wie das unter der schützenden Hand der Caritas funktionierende
zweisprachige Büchereien -Netzwerk in Oppeln und das gut organisierte Haus der deutsch-polnischen Begegnung in Gleiwitz.
Und es gibt einigermaßen funktionierenden Deutschunterricht in den Schulen, vielleicht, weil sich hierbei das Drängen
der Menschen am stärksten ausdrückt.
Doch das Bemühen um den Zugang zu polnischen Kultureinrichtungen mit deutschen Initiativen wird verhindert. So
lehnte das Kochanowski Theater in Oppeln die Einrichtung eines Festivals deutscher Klassik in polnischer Sprache mit
deutschen Mitteln ab, mit der Begründung, dass dies in dieser Region politisch nicht gewünscht werde. Als aber die
Minderheit mit Forderungen eigener kultureller Institutionen auftrat, wird prompt in der Presse behauptet, man wolle ein
Theater „nur für Deutsche“, wie während der Okkupationszeit.
Für eine passende Pointe dazu sorgte allerdings auch die Bundesrepublik, die nach der Wende ein Goethe-Institut in
Krakau errichtet hatte, nicht aber in Oppeln, wo es brennend notwendig gewesen wäre.
Das Gleiche kann von Museen festgestellt werden - Bemühungen, die Geschichte des Landes von propagandistischem Unfug
zu befreien, werden abgewiegelt.
Dagegen tauchen in den polnischen Medien ein Mal ums andere sinnlose Attacken gegen die Minderheit auf, in denen ihr
das Trachten nach der Rolle einer fünften Kolonne bis zum geselligen Beieinandersein bei Kaffeee und Kuchen statt
Wodkatrinken vorgeworfen wird. Man darf einfach alles gegen die Minderheit schreiben. Gegendarstellungen werden in der
Regel nicht veröffentlicht.
Fatal wirkt sich zudem aus, dass Propaganda- Institutionen, die während des totalitären Regimes mit dem Auftrag,
den urpolnischen Charakter Schlesiens zu beweisen, errichtet wurden, weiterhin funktionieren und nach alten Vorgaben
publizieren.
So wird das Schlesische Institut in Oppeln, mit einem nicht geringen Stab erprobter Wissenschaftler, weiter vom Staat
finanziert. Nicht nur Zeitschriften wie das Heft für Kultur „Slask“ (Schlesien) in Kattowitz, sondern auch
andere Periodika mit wissssenschaftlichem Anspruch ignorieren den deutschen Anteil der Bevölkerung und den wahren
Verlauf der Geschichte des Landes.
Tragisch wirkt sich das erneute Aufbrechen alter Fronten aus den Zeiten des Bruderkriegs aus. Die polnisch gesinnten
Oberschlesier erwiesen sich als die härtesten Gegner der Deutschen im Lande. Das hat Tradition. Bereits im Jahr 1956,
in der Zeit des Tauwetters, als in den Parteigremien die Zulassung einer deutschen Minderheit erwogen wurde, um der
andauernden Ausreisebereitschaft der Bevölkerung Einhalt zu bieten, protestierten polnisch gesinnte Oberschlesier gegen
die Zulassung der deutschen Sprache in Oberschlesien aufs schärfste. Und Deutsch blieb in Oberschlesien verboten bis
1989.
Doch leider auch zehn Jahre danach treten einige polnisch gesinnte Oberschlesier gegen die deutsche Minderheit auf.
Aber gerade sie - gut deutsch sprechend und mit nachweisbaren wissenschaftlichen Errungenschaften - finden oft geneigte
Gesprächspartner, ja, erfahren Ehrungen von seiten der Bundesrepublik, wo sie sich als legitime Repräsentanten der
Oberschlesier ausgeben, die sie auch während des Zeit des totalitären Regimes stets waren.
Das Bild wird in letzter Zeit noch zusätzlich durch eine jüngere politische Bewegung der oberschlesischen
Autonomisten kompliziert, der viele Akademiker insbesondere in der Industrieregion angehören, die zwar der deutschen
Kultur und Sprache durch die Zwangsassimilierung weitgehend entfremdend wurden, dennoch sich auf diese Wurzeln beziehen
und ihre Verbundenheit mit der deutschen Kultur und Geschichte des Landes bekunden. Sie fordern mehr Autonomie für die
wirtschaftliche und kulturelle Regenerierung der geschundenen Region und eine Gleichberechtigung für alle hier lebenden
Bevölkerungsgruppen.
Hierbei spielt auch die Umweltkatastrophe, der Oberschlesien durch die sozialistische Planwirtschaft anheimgefallen
ist, eine große Rolle. Man will in einem normalen Land leben.
Die europäisch denkende Jugend Oberschlesiens ist die eigentliche Hoffnung. Leider verlassen noch immer viele junge
Leute die Region, um sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen.
Ein Wunder müsste geschehen: Oberschlesier aller Couleur und die im Lande seit 1945 lebenden Polen und dazu die
Deutschen, die sich stärker zu ihrer Obhutspflicht für die deutsche Minderheit bekennen sollten, müssten sich noch
einmal zusammentun, um über die Zukunftsperspektiven der heute in Oberschlesien lebenden Menschen - einer Mischbevölkerung
neuerer Art - zu beraten. Damit es eine Zukunft in Europa gibt auch für diese durchs Zeitgeschehen ganz besonders
geschundene Region.
Renata Schumann