DIE OBERSCHLESISCHE FRAGE (VI)
Der Bund der Oberschlesier
Seine spätere innere Wandlung
Um die Interessen Oberschlesiens zu wahren, den Selbständigkeitsgedanken im Volke zu pflegen und die
Selbständigkeitsbewegung einheitlich zu leiten wurde vom oberschlesischen Komitee im Februar 1919 der Bund der
Oberschlesier mit folgendem Programm begründet:
1. Sofortige Aufhebung der gesamten gegen die polnischen Oberschlesier gerichteten preußischen
Ausnahmegesetze.
2. Unverzügliche Einführung der Gleichberechtigung der polnischen mit der deutschen Sprache vor
Gerichten, Behörden, in Kirchen und Schulen jeder Art.
3. Unverzügliche Besetzung der Staatsämter mit Oberschlesiern, die beider Sprachen mächtig sind und
aus den in Oberschlesien vorhandenen Religionsbekenntnissen entnommen werden in dem Verhältnisse, als diese in
Oberschlesien vertreten sind.
4. Freiheit der Religionsübung. Keine Trennung von Kirche und Staat. Keine Einziehung der Kirchen- und
Klostergüter. Errichtung einer besonderen Delegatur (Weihbischof), deren Inhaber ein oberschlesischer doppelsprachiger
katholischer Geistlicher sein soll.
5. Weitester Ausbau der sozialen Gesetzgebung (Arbeiterfürsorge). Hebung der Volksbildung.
6. Unteilbarkeit Oberschlesiens. Im Falle der Abtrennung Oberschlesiens vom Deutschen Reiche durch die
Friedenskonferenz: die Gründung eines neutralen selbständigen oberschlesischen Freistaats mit einer aus allgemeinen,
gleichen, direkten, unmittelbaren, geheimen Wahlen nach dem Verhältniswahlsystem hervorgegangenen Volksvertretung und
einer Verfassung, die insbesondere auch den Forderungen 1 bis 5 und den Schutz der nationalen Minderheiten Rechnung
tragen muß.
Wie tief die Selbständigkeitsidee im Volke bereits Wurzel gefasst hat, geht aus den Zehntausenden von
Mitgliedern hervor, die schon im ersten Monat dem Bund der Oberschlesier sich anschlossen. Es waren beide Nationen und
alle Schichten der Bevölkerung vertreten. Der „freiheitlichen“ sozialdemokratischen preußischen Regierung
war natürlich der Bund ein Dorn im Auge und, wie ihre Vertreter in einer Versammlung in Kattowitz erklärten,
gefährlicher als die polnischen Hochverräter selbst. Man sah in ihm nur eine geschickte Maskierung einer gefährlicher
polnischen Agitation. Von polnischer Seite verdächtigte man ihn gleichfalls, im Dienste des deutschen Kapitalismus und
früheren reaktionären hakatistischen Regierung zu stehen. Unter diesen Verhältnissen hatte der Bund schon bei seiner
Gründung recht viele Schwierigkeiten zu überwinden und war manchen Schikanen ausgesetzt. Doch trotz Anfeindungen und
Verdächtigungen hat er die ersten Monate hindurch eine der polnischen Bevölkerung wohlwollende Haltung gewahrt und ist
warm für die Interessen der polnischen Oberschlesier eingetreten. Später jedoch trat zum Teil unter dem Zwange der
Verhältnisse eine Aenderung ein, die seine bisherige Neutralität und Aufgabe, auf die zweisprachige oberschlesische
Bevölkerung versöhnend einzuwirken, gefährden konnte. Da zudem seit März 1919 in großindustriellen Kreisen
Bestrebungen einsetzten, eine deutsch-amerikanische Vertrustung der oberschlesischen Industrie herbeizuführen und mit
Hilfe des internationalen Kapitalismus ihre deutschen Interessen zu wahren, sah der Verfasser darin eine Gefährdung der
oberschlesischen Arbeiterbevölkerung und zog sich vom Bunde der Oberschlesier, dessen Gründung er nahe stand, ganz
zurück. Als die freie Vereinigung, die zum Schutze der deutschen Interessen in Oberschlesien gegründet infolge ihrer
maßlosen hakatistischen Hetze in Oberschlesien viel Unheil angerichtet hatte, dann sang- und klanglos im August 1919
aus Oberschlesien verschwand, übernahm der Bund Der Oberschlesier die meisten ihrer Mitglieder und erhielt dadurch noch
mehr ein nur deutsches Gepräge.
Die Autonomie Oberschlesiens und die auswärtigen Diplomaten
Im April traf der Verfasser gelegentlich einer Privatreise nach der Schweiz mit verschiedenen
auswärtigen Diplomaten zusammen, die der oberschlesischen Frage ein lebhaftes Interesse entgegenbrachten. Da sie mit
der Friedenskonferenz in naher Verbindung standen und Gelegenheit hatten, indirekt ihre Entscheidungen zu beeinflussen,
sollen hier einige ihrer Aeußerungen verzeichnet werden. Viele äußerten die Befürchtung, dieses reiche Ländchen
Mitteleuropas, das jetzt so heiß umworben sei, könnte einst der Zankapfel für die drei Nachbarreiche werden. Da zudem
das Teschener Gebiet und die deutschen Sudetenländer erhebliche äußere und innere politische Verwickelungen
veranlassten, war man nicht abgeneigt, eine Vereinigung dieser drei strittigen Gebiete anzuregen. Es wäre damit ein
autonomer Staat von ca. 40 000 qkm und 4,5 Millionen Einwohnern geschaffen worden, in dem ähnlich wie in der
Schweiz den drei Nationen, die sich hier begegneten, freiheitliche Entwicklung ermöglicht worden wäre. Die Polen
sollten wirtschaftlich in Oberschlesien, die Tschechen im Teschener Gebiet entschädigt werden. Zugleich sollte diese
neugeschaffene Staat, um ihm eine größere Rückversicherung zu ermöglichen, mit Polen und Tschechen in einem
Wirtschaftsbund vereinigt werden. Dadurch wären die Differenzen zwischen den Polen und Tschechen, die auf einander
angewiesen sind, in friedlicher Weise gelöst, ihre gegenseitigen Interessen in den strittigen Gebieten gewahrt und der
betreffenden gemischten Bevölkerung freiheitliche Entwicklung verschafft worden. Es sollte die Balkanisierung dieser
reichen Gebiete Mitteleuropas für die Zukunft verhindert und Deutschland die Gelegenheit geboten werden, den schweren
Verlust Oberschlesiens, die Schädigung seiner wirtschaftlichen Interessen durch soweit wie möglich sich erstreckende
Conzessionen eher zu verschmerzen und über Oberschlesien hinweg sich mit Polen und Tschechen wirtschaftlich
zusammenzuschließen.
Die polnische Friedenskommission und ihr Autonomieentwurf.
In dieser Zeit traf jedoch von Paris die Nachricht ein, dass das Schicksal Oberschlesiens bereits
entschieden sei. Anfang April kam der Verfasser mit einer Kommission der Friedenskonferenz, die von Paris heimkehrte,
zusammen und erfuhr da schon die Lösung der oberschlesischen Frage, wie sie, abgesehen von kleinen Grenzänderungen,
nach einem Monat in Deutschland bekannt gegeben wurde. Auf seine Bedenken hin, Oberschlesien mit seiner kulturellen und
nationalen Eigenart ohne weiteres mit Polen zu verschmelzen, hat man schon damals auf polnischer Seite die Absicht
kundgetan, den abgetretenen preußischen Provinzen eine ziemlich weit gehende Autonomie zu gewähren. Es sollte ein
Verfassungsentwurf in dieser Hinsicht ausgearbeitet und möglichst bald dem Landtag in Warschau und der Pariser
Friedenskonferenz unterbreitet werden. Leider scheint dieser Entwurf in Warschau viel Schwierigkeiten gefunden zu haben,
was bei der dort herrschenden Unkenntnis über Oberschlesiens Volk und Verhältnisse nicht verwunderlich war. Wenn schon
bei der preußischen Regierung nach hundertfünfzigjähriger Herrschaft wenig Verständnis für Oberschlesien zu finden
ist, wie sollte man es in Warschau erwarten, das sich früher wenig um Oberschlesien gekümmert hat. Außerdem schien
die polnische Regierung die erste Zeit auch dem „preußischen Nationalismus“ zu verfallen, der im „Staatsinteresse“
alles zu zentralisieren und das Prinzip der Freiheit und Gerechtigkeit rücksichtslos zu vergewaltigen sucht. Als
endlich nach vier Monaten, mehr unter dem Zwange der veränderten Verhältnisse und der Vorgänge in Posen der
sogenannte Korfantysche Verfassungsentwurf bekannt wurde, der den von Preußen abgetretenen Gebieten kaum die rechtliche
Stellung einer preußischen Provinz einräumte, wurde er selbst in dieser ganz verwässerten Form als viel zu weitgehend
und darum unannehmbar von der linksgerichteten polnischen Presse abgelehnt.
Die oberschlesischen Polen
Da trat aber im oberschlesischen polnischen Lager selbst eine Wendung ein. Während die oberschlesischen
Nationalpolen anfangs jede Sonderstellung Oberschlesiens innerhalb Polens ablehnten und eine völlige Verschmelzung
anstrebten, um möglichst bald mit der Vorherrschaft des Deutschtums und der deutschfreundlichen Zentrumspartei
aufzuräumen, wurden sie durch die deutschen Demonstrationen, die schwankende Haltung eines Teiles ihrer Anhänger,
durch die verschiedenen Bestrebungen der industriellen Kreise, die eine Verschmelzung Oberschlesiens mit Polen
verhindert wollten, nachdenklich. Zugleich waren die Differenzen zwischen Warschau und Posen deutlich genug, um selbst
den Extremsten die Augen zu öffnen, dass man auf politischem Gebiete auf Liebe und Dankbarkeit nicht zu rechnen habe,
sondern von vornherein seine Interessen festlegen müsse. Viele von den verstiegenen Idealisten, die für den besonnenen
Oberschlesier nur zu bald den Vorwurf eines „Renegaten“ bereit hatten, wenn er nicht voll und ganz in das
Lob Polens einstimmte und – die Interessen seiner Heimat zu wahren wagte, haben sich allmählich zu der
nüchternen Realpolitik des „do ut des“ bekehrt. Voll Anerkennung muß hier vermerk werden, dass schon Mitte
Mai, als durch den Friedensvertrag Oberschlesien ohne Weiteres Polen zuerkannt worden war, von einflussreicher
maßgebender polnischer Seite trotz widerstreitender Meinungen vieler radikaler oberschlesischer Heißporne die
Berechtigung der Sonderstellung Oberschlesiens zugestanden und eine dementsprechende Denkschrift nach Warschau und Posen
eingereicht wurde. Mit der gewaltsamen Auflösung des oberschlesischen polnischen Unterkommissariats wurde diese
wichtige Vermittelung unterbrochen.!
Th. Reginek
Dalyj bydzie juzas.