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14_10/2003

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Wir schmücken unsere Gräber

Nachdem wir unsere oberschlesische Heimat verlassen mußten, ist auch ein großer Teil unserer zurückgelassenen Gräber dem Verfall preisgegeben; nur in den Familien, in welchen noch ein Teil in Ober­schlesien zurückgeblieben ist, werden die Gräber der Angehörigen weiter besucht und gepflegt. Unsere Friedhöfe, besonders die auf dem Lande, waren noch mehr mit der Natur verbunden. Selten war ein Grab mit einer Betonumrandung umgeben, nur auf wenigen Gräbern stand ein Marmor- oder Sandsteindenkmal. Die Wege zwischen den Grabreihen waren mit Naturrasen bewachsen. Das Wahrzeichen des Friedhofes, ein großes, hohes, meist aus Sandstein gemeißeltes Kreuz, stand in der Mitte. Wir richteten die Einfassung unserer Gräber meist selber her. Aus den Wegen wurden lange Rasenstücke heraus­gestochen und dieselben dann als Umrandung an die Gräber gelegt, welche eine durchschnittliche Höhe von 40-50 cm hatten. Durch diese Rasenumrandung wurde das ganze Erdreich des Grabes gehal­ten. Zusätzlich pflanzten wir ringsherum am Außenrand des Grabes fette Henne, welche durch ihren dichten Wuchs und verzweigte Wur­zeln noch einen zusätzlichen Halt dem Grabhügel gaben. Astern, Veil­chen, Vergißmeinnicht, Strohblumen und Winterastern, manchmal auch Schwertlilien oder Rosen, schmückten unsere Gräber. Sträucher oder Bäume waren seltener, einfache Holzkreuze mit Namen, Ge­burts- und Todesdatum kennzeichneten die Gräber.

Im Vergleich zu den hiesigen Gräbern mit ihrem äußerlichen Reichtum - oft sehen die Friedhöfe hier einer Steinwüste gleich - waren unsere Gräber einfach und bescheiden. Hier will einer den anderen im Schmücken der Gräber übertreffen. Viele Gräber werden von Fried­hofsgärtnern bearbeitet; man wird das Gefühl nicht los, daß dieser ganze Prunk nicht so viel dem Toten, sondern mehr den lebenden An­gehörigen gilt. Stand, Reichtum und Angebertum wird hier demon­striert. In Oberschlesien schmückten wir unsere Gräber selber; wir ar­beiteten auf den Gräbern mit Spaten, Hacke und Rechen. Alles hatte eine persönliche Note. Man sah die große Anhänglichkeit und Herzlich­keit dem Toten gegenüber.

Am schönsten war es auf unseren Friedhöfen zu Allerheiligen. Dann, wenn alle Gräber schön hergerichtet und von sämtlichen Angehörigen besucht wurden.

Schon einige Tage vor Allerheiligen wurden in fast allen Häusern große Kränze aus Tannenreisig gebunden und mit Strohblumen oder Win­terastern, oft auch mit selbstgemachten Blumen aus buntem Kreppa­pier und bunten Bändern geschmückt. Wir Kinder trugen dann die Kränze über die Schultern gelegt auf den Friedhof. In den Rockta­schen waren die Schachteln mit den Kerzen, in der Hosentasche ein Päckchen Streichhölzer. Mit der ganzen Familie gingen wir am frühen Nachmittag zu den Gräbern. Das Wetter war zu Allerheiligen öfters winterlich; oft war es empfindlich kalt. Schneeflocken mit Regen ver­mischt, manchmal starker Wind, Feuchtigkeit und Nebel wechselten einander ab. Um so eifriger waren wir dann beim Anzünden der Ker­zen, an ihrer Wärme konnten wir unsere klammen Finger wieder ein wenig in Gang bringen. Es gab kein Grab, auf welchem nicht mehrere Kerzen brannten. Besonders um das große Friedhofskreuz leuchtete ein Meer von Kerzen und verbreitete Licht und Wärme. An dieser Stelle wurden für die in weiter Ferne begrabenen Toten Kerzen angebrannt und geopfert. Der Gräberbesuch zu Allerheiligen dauerte nicht nur einige Minuten; man blieb stundenlang auf dem Friedhof, bis die Dun­kelheit hereinbrach. Man besuchte auch Gräber von Freunden und Be­kannten, man unterhielt sich mit den Nachbarn, traf Bekannte und Ver­wandte. Es war ein großer Tag für die Toten. Die Lebenden reichten sich über den Gräbern der Toten - mitunter zur Versöhnung - die Hand. Ein unvergeßlich schönes Bild bot der Friedhof in der Dunkel­heit. Auf hunderten von Gräbern leuchteten und glitzerten die unzähli­gen, brennenden Kerzen. Der helle Schein der einzelnen Gräber verei­nigte sich miteinander, es entstand ein Lichtermeer, dessen Schein weit aus der Ferne schon zu sehen war. Der Himmel erschien an die­sem Abend über dem Friedhof hell erleuchtet. Erst nachdem die letz­ten Kerzen ausgebrannt waren, begab man sich nach Hause; ausgefroren und hungrig, empfingen uns die warmen Stuben und heißer Kaffee ließ das ganze Kältegefühl in uns schwinden. Das schöne Er­lebnis am Friedhof und die Wärme daheim ließen in uns ein Gefühl des Wohlbehagens und des Glücks aufkommen.

Das Grab unserer Großmutter lag zwei Ortschaften weiter in Fisch­grund. Unter einem großen Lindenbaum fand sie ihre letzte Ruhestätte nach einem schweren und unruhigen Leben in der Stadt. Die heimatli­che Erde gab ihr wieder die verdiente Ruhe. Der Weg nach Fischgrund war weit, also nahmen wir jedes Jahr zu Allerheiligen die Droschke vom Bauern Durtschok. Es war eine halbgedeckte Kutsche, bespannt mit zwei Droschkenpferden. Fünf bis sechs Personen fanden in der Droschke Platz.

Schon am frühen Morgen stand die Droschke vor unserem Haus. In Mänteln warm angezogen, Decken auf den Füßen, der Kranz am Kut­scherbock befestigt, die Gartengeräte zwischen den Sitzen verstaut, traten wir die Fahrt nach Fischgrund an. Für die ganze Familie reichte der Platz in der Droschke nicht aus, so daß außer den Eltern abwech­selnd jedesmal drei von uns Kindern mitfahren durften. Zuerst ging die Fahrt entlang der Tschernitzer Straße bis an die Kreuzung von Be­such, von da ab entlang der Rybnik-Ratiborer-Chaussee, im ersten Teil bergabwärts bis an die Abzweigung nach Fischgrund, von da ab führte eine gute Landstraße, auf beiden Seiten mit Bäumen bepflanzt, bis in die Ortschaft hinein. Der Friedhof in Fischgrund lag anschließend neben der Kirche, das Grab der Großmutter befand sich auf der rechten Seite unweit der Einfriedung, es war leicht zu finden, denn eine große Linde stand bei demselben. Am Grab angekommen, wurde es mit Spaten, Hacke und Rechen hergerichtet, dann mit Blumen und Kranz geschmückt, die Kerzen wurden angezündet und wir verrichte­ten gemeinsam am Grabe der Großmutter ein Gebet. Nachdem die Kerzen soweit abgebrannt waren, gingen wir zu unserer Tante Mar­ziana Niestroj, welche bei der Kirche eine kleine Metzgerei hatte. Es gab eine herzliche Begrüßung. Die Tante war ländlich gekleidet, ein weiter, langer Rock, darüber eine dunkle Bluse, die Haare mit einem schwarzen Kopftuch zusammengehalten, eine schwarze seidene Schürze um die Hüften gebunden, gaben ihr immer eine patriachali­sche Note. Das Beste bei dem Besuch aber war das Essen: ein Stück heiße Krakauer mit Semmeln und Mostrich und eine Tasse heißen Milchkaffee ließen eine fröhliche Stimmung unter uns aufkommen. Die vielen Kinder der Tante schlossen mit uns Freundschaft. Alles war für uns so neu und ganz anders. Die Kinder der Tante Marziana bestaun­ten und betasteten uns, da wir städtisch angezogen waren und ein rei­nes Deutsch sprachen. Auch für uns war es nicht minder interessant, Kleidung und Sprache unserer jungen Verwandten zu betrachten und zu hören. Die Zeit mahnte zum Aufbruch, denn am Nachmittag muß­ten wir noch die Gräber unserer Geschwister besuchen. Zu schnell sind diese schönen, erlebnisreichen Stunden in Fischgrund vergan­gen. Ein herzliches „Aufwiedersehen", Küsse und Händedrücken wur­den ausgetauscht und manche versteckte Träne ist geflossen. Lang­sam setzte sich die vollbeladene Kutsche in Richtung Rydultau in Bewegung, begleitet vom Händewinken und Tücherschwenken, bis sie an der Biegung hinter Fischgrund den Blicken der Zurückgrüßen­den entschwand.

Leopold Walla
Aus dem Buch "So lebten wir in Oberschlesien"


 

 


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