Wir schmücken unsere Gräber
Nachdem wir unsere oberschlesische Heimat verlassen mußten, ist auch ein großer Teil
unserer zurückgelassenen Gräber dem Verfall preisgegeben; nur in den Familien, in welchen noch ein Teil in
Oberschlesien zurückgeblieben ist, werden die Gräber der Angehörigen weiter besucht und gepflegt. Unsere
Friedhöfe, besonders die auf dem Lande, waren noch mehr mit der Natur verbunden. Selten war ein Grab mit einer
Betonumrandung umgeben, nur auf wenigen Gräbern stand ein Marmor- oder Sandsteindenkmal. Die Wege zwischen den
Grabreihen waren mit Naturrasen bewachsen. Das Wahrzeichen des Friedhofes, ein großes, hohes, meist aus Sandstein
gemeißeltes Kreuz, stand in der Mitte. Wir richteten die Einfassung unserer Gräber meist selber her. Aus den Wegen
wurden lange Rasenstücke herausgestochen und dieselben dann als Umrandung an die Gräber gelegt, welche eine
durchschnittliche Höhe von 40-50 cm hatten. Durch diese Rasenumrandung wurde das ganze Erdreich des Grabes gehalten.
Zusätzlich pflanzten wir ringsherum am Außenrand des Grabes fette Henne, welche durch ihren dichten Wuchs und
verzweigte Wurzeln noch einen zusätzlichen Halt dem Grabhügel gaben. Astern, Veilchen, Vergißmeinnicht,
Strohblumen und Winterastern, manchmal auch Schwertlilien oder Rosen, schmückten unsere Gräber. Sträucher oder Bäume
waren seltener, einfache Holzkreuze mit Namen, Geburts- und Todesdatum kennzeichneten die Gräber.
Im Vergleich zu den hiesigen Gräbern mit ihrem äußerlichen Reichtum - oft sehen die
Friedhöfe hier einer Steinwüste gleich - waren unsere Gräber einfach und bescheiden. Hier will einer den anderen im
Schmücken der Gräber übertreffen. Viele Gräber werden von Friedhofsgärtnern bearbeitet; man wird das Gefühl
nicht los, daß dieser ganze Prunk nicht so viel dem Toten, sondern mehr den lebenden Angehörigen gilt. Stand,
Reichtum und Angebertum wird hier demonstriert. In Oberschlesien schmückten wir unsere Gräber selber; wir
arbeiteten auf den Gräbern mit Spaten, Hacke und Rechen. Alles hatte eine persönliche Note. Man sah die große
Anhänglichkeit und Herzlichkeit dem Toten gegenüber.
Am schönsten war es auf unseren Friedhöfen zu Allerheiligen. Dann, wenn alle Gräber
schön hergerichtet und von sämtlichen Angehörigen besucht wurden.
Schon einige Tage vor Allerheiligen wurden in fast allen Häusern große Kränze aus
Tannenreisig gebunden und mit Strohblumen oder Winterastern, oft auch mit selbstgemachten Blumen aus buntem
Kreppapier und bunten Bändern geschmückt. Wir Kinder trugen dann die Kränze über die Schultern gelegt auf den
Friedhof. In den Rocktaschen waren die Schachteln mit den Kerzen, in der Hosentasche ein Päckchen Streichhölzer. Mit
der ganzen Familie gingen wir am frühen Nachmittag zu den Gräbern. Das Wetter war zu Allerheiligen öfters winterlich;
oft war es empfindlich kalt. Schneeflocken mit Regen vermischt, manchmal starker Wind, Feuchtigkeit und Nebel
wechselten einander ab. Um so eifriger waren wir dann beim Anzünden der Kerzen, an ihrer Wärme konnten wir unsere
klammen Finger wieder ein wenig in Gang bringen. Es gab kein Grab, auf welchem nicht mehrere Kerzen brannten. Besonders
um das große Friedhofskreuz leuchtete ein Meer von Kerzen und verbreitete Licht und Wärme. An dieser Stelle wurden
für die in weiter Ferne begrabenen Toten Kerzen angebrannt und geopfert. Der Gräberbesuch zu Allerheiligen dauerte
nicht nur einige Minuten; man blieb stundenlang auf dem Friedhof, bis die Dunkelheit hereinbrach. Man besuchte auch
Gräber von Freunden und Bekannten, man unterhielt sich mit den Nachbarn, traf Bekannte und Verwandte. Es war ein
großer Tag für die Toten. Die Lebenden reichten sich über den Gräbern der Toten - mitunter zur Versöhnung - die
Hand. Ein unvergeßlich schönes Bild bot der Friedhof in der Dunkelheit. Auf hunderten von Gräbern leuchteten und
glitzerten die unzähligen, brennenden Kerzen. Der helle Schein der einzelnen Gräber vereinigte sich miteinander,
es entstand ein Lichtermeer, dessen Schein weit aus der Ferne schon zu sehen war. Der Himmel erschien an diesem Abend
über dem Friedhof hell erleuchtet. Erst nachdem die letzten Kerzen ausgebrannt waren, begab man sich nach Hause;
ausgefroren und hungrig, empfingen uns die warmen Stuben und heißer Kaffee ließ das ganze Kältegefühl in uns
schwinden. Das schöne Erlebnis am Friedhof und die Wärme daheim ließen in uns ein Gefühl des Wohlbehagens und des
Glücks aufkommen.
Das Grab unserer Großmutter lag zwei Ortschaften weiter in Fischgrund. Unter einem
großen Lindenbaum fand sie ihre letzte Ruhestätte nach einem schweren und unruhigen Leben in der Stadt. Die
heimatliche Erde gab ihr wieder die verdiente Ruhe. Der Weg nach Fischgrund war weit, also nahmen wir jedes Jahr zu
Allerheiligen die Droschke vom Bauern Durtschok. Es war eine halbgedeckte Kutsche, bespannt mit zwei Droschkenpferden.
Fünf bis sechs Personen fanden in der Droschke Platz.
Schon am frühen Morgen stand die Droschke vor unserem Haus. In Mänteln warm angezogen,
Decken auf den Füßen, der Kranz am Kutscherbock befestigt, die Gartengeräte zwischen den Sitzen verstaut, traten
wir die Fahrt nach Fischgrund an. Für die ganze Familie reichte der Platz in der Droschke nicht aus, so daß außer den
Eltern abwechselnd jedesmal drei von uns Kindern mitfahren durften. Zuerst ging die Fahrt entlang der Tschernitzer
Straße bis an die Kreuzung von Besuch, von da ab entlang der Rybnik-Ratiborer-Chaussee, im ersten Teil bergabwärts
bis an die Abzweigung nach Fischgrund, von da ab führte eine gute Landstraße, auf beiden Seiten mit Bäumen bepflanzt,
bis in die Ortschaft hinein. Der Friedhof in Fischgrund lag anschließend neben der Kirche, das Grab der Großmutter
befand sich auf der rechten Seite unweit der Einfriedung, es war leicht zu finden, denn eine große Linde stand bei
demselben. Am Grab angekommen, wurde es mit Spaten, Hacke und Rechen hergerichtet, dann mit Blumen und Kranz
geschmückt, die Kerzen wurden angezündet und wir verrichteten gemeinsam am Grabe der Großmutter ein Gebet. Nachdem
die Kerzen soweit abgebrannt waren, gingen wir zu unserer Tante Marziana Niestroj, welche bei der Kirche eine kleine
Metzgerei hatte. Es gab eine herzliche Begrüßung. Die Tante war ländlich gekleidet, ein weiter, langer Rock, darüber
eine dunkle Bluse, die Haare mit einem schwarzen Kopftuch zusammengehalten, eine schwarze seidene Schürze um die
Hüften gebunden, gaben ihr immer eine patriachalische Note. Das Beste bei dem Besuch aber war das Essen: ein Stück
heiße Krakauer mit Semmeln und Mostrich und eine Tasse heißen Milchkaffee ließen eine fröhliche Stimmung unter uns
aufkommen. Die vielen Kinder der Tante schlossen mit uns Freundschaft. Alles war für uns so neu und ganz anders. Die
Kinder der Tante Marziana bestaunten und betasteten uns, da wir städtisch angezogen waren und ein reines Deutsch
sprachen. Auch für uns war es nicht minder interessant, Kleidung und Sprache unserer jungen Verwandten zu betrachten
und zu hören. Die Zeit mahnte zum Aufbruch, denn am Nachmittag mußten wir noch die Gräber unserer Geschwister
besuchen. Zu schnell sind diese schönen, erlebnisreichen Stunden in Fischgrund vergangen. Ein herzliches „Aufwiedersehen",
Küsse und Händedrücken wurden ausgetauscht und manche versteckte Träne ist geflossen. Langsam setzte sich die
vollbeladene Kutsche in Richtung Rydultau in Bewegung, begleitet vom Händewinken und Tücherschwenken, bis sie an der
Biegung hinter Fischgrund den Blicken der Zurückgrüßenden entschwand.
Leopold Walla
Aus dem Buch "So lebten wir in Oberschlesien"
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