DIE OBERSCHLESISCHE FRAGE (V)
Die Durchführung der Resolution vom 30. Dezember
Die Erklärung der preußischen Regierung
Wie ernst es die preußische Regierung trotz der höchstzugespitzten Verhältnisse mit ihren
Versprechungen nahm, sei an ihrer eigenen Erklärung vom Anfang Juni 1919 nachgewiesen. Unter Berufung auf die
Resolution vom 30. Dezember 1918 habe sie für Oberschlesien folgende Maßnahmen durchgeführt:
„1. Im Interesse der katholischen Oberschlesier ist zum Regierungspräsidenten in Oppeln ein
Vertrauensmann der Zentrumspartei, Geheimrat Bitta ernannt worden, der die deutsche, polnische und tschechische Sprache
beherrscht.
2. Als Leiter bei der Schulabteilung bei der Regierung zu Oppeln ist der kath. Regierungsrat Pietsch
berufen.
3. In der Regierung in Oppeln ist der Regierungs- und Schulrat Dr. Bürger berufen worden, der 1908 eine
Broschüre über die deutsche und die polnische Sprache herausgegeben hat, die seiner Zeit die Regierung verbot.
4. Weiter ist in die Schulabteilung der Regierung in Oppeln der Geistliche Seminardirektor Werner aus
Rosenberg berufen worden, der gleichfalls polnisch spricht. Es bestand zunächst die Absicht, für dieses Amt den
Oberlehrer an der Ober-Realschule in Beuthen , Professor Durynek, zu ernennen, der wohl für die Stelle geeigneter
gewesen wäre, umsomehr, als er von Jugend auf polnisch spricht.
5. Ins Leben gerufen ist eine Kommission für die deutsch-polnische Bevölkerung, die sich aus dem Bürgermeister
Friedrich in Beuthen und dem Justizrat Mierzejewski aus Myslowitz zusammensetzt.
6. Bei der Oppelner Regierung sind zwei deutsch-polnisch sprechende Regierungs-Assessoren bestellt: Dr.
Wronka und Maddey. Die Uebersiedelung des dritten Assessors steht bevor.
7. Die neu berufenen Dezernenten der Schulabteilung haben am 1 März 1919 eine Verfügung über die Einführung
des polnischen Religionsunterrichtes und eines neuen Planes über den Unterricht in der polnischen Sprache erlassen. Zu
diesem Zwecke sind am 1 April 1919 189 polnisch sprechende Lehrer in solche Dorfgemeinden versetzt worden, die bisher
polnisch sprechende Lehrer nicht hatten.
8. Beabsichtigt ist gleichfalls eine Kundmachung der Verfügungen der Regierung in deutscher und
polnischer Sprache. Dahin gehende Berichte des Regierungspräsidenten befinden sich bereits im Ministerium zur
Entscheidung.“
Die Gegenmaßnahmen
Unwillkürlich sprachen nicht allein die polnischen, sondern auch ein großer Teil der deutschen oberschlesischen
Zeitungen ihre Verwunderung über eine solche Durchführung des Regierungsprogrammes vom 30 Dezember aus. Man sah
deutlich, wie auch die neue sozialistische Regierung mit Lug arbeitete und nur ihre parteipolitischen Interessen
betrieb. Denn selbst die kleinen Konzessionen, die sie dem unterdrückten oberschlesischen Volke zu machen glaubte,
verstand sie durch Gegenmaßnahmen illusorisch zu machen. An die Seite des kommissarischen Regierungspräsidenten berief
sie alsbald den ostpreußischen evangelischen Sozialdemokraten Hörsing, der als oberschlesischer Staatskommissar die
Regierungsgeschäfte des Präsidenten zu kontrollieren hatte. Hörsings Stellvertreter, der bei der häufigen
Abwesenheit des Kommissars die Geschäfte zu führen hat, wurde ein junger jüdischer Referendar. Die traurige Berühmtheit,
welche in der Folgezeit der rücksichtlose oberschlesische Diktator Hörsing mit seinem Stabe von Geheimpolizisten und
seinem Grenzschutz erlangt hat, ist ebenso hinlänglich bekannt wie sein Beitrag zur Entfremdung selbst des größten
Teils der deutschen oberschlesischen Bevölkerung gegenüber Deutschland.
Der polnische Unterricht kommt aus Mangel an geschulten Lehrkräften oder ernstem Willen wenig zu
Geltung. Weiterhin wurden drei oder vier katholische Regierungskräfte, meist aus dem Westen, und einige katholische
Landräte berufen. Die Oberschlesier sind aber noch hierfür nicht preußisch genug. Der berüchtigte Geheimerlaß des
Gesamtministeriums von 1886, der so recht die ricksichtslose Ungerechtigkeit und Seelenlosigkeit der preußischen
Personalpolitik in Oberschlesien beleuchtet, wonach kein preußischer Staatsbürger polnischer Muttersprache irgend ein
Staatsamt in der Ostmark bekleiden durfte, wird nur auf dem Papier aufgehoben. Doch selbst dazu bedarf es für die
„freiheitliche“ sozialdemokratische Regierung erst der Enthüllung durch die Broschüre v. Gerlachs:
„Der Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik“. Für den Gerechtigkeitssinn der bisher außerordentlich
bevorzugten evangelischen Staatsbürger ist aber so recht bezeichnend, das bereits die Aufhebung des Geheimerlasses und
die Berufung der wenigen katholischen Beamten eine Anzahl oberschlesischer Superintendenten veranlasste, im Namen der
evangelischen Diözesen Oberschlesiens nachdrücklichst Protest gegen diese „Verletzung der Parität“ und
„Gefährdung evangelisch-deutscher Interessen“ zu erheben. (Wie einige oberschlesische Blätter entrüstet
berichteten.)
Die evangelisch- deutschen Interessen
Wie sieht es in Wirklichkeit mit den evangelisch-deutschen Interessen in Oberschlesien aus? Der berüchtigte
Geheimerlaß hat dazu geführt, dass fast jeder irgendwie wichtige Beamtenposten vom Landrat bis zum Nachtwächter möglichst
mit evangelischen, nicht oberschlesischen Beamten besetzt wurde. Während auf rund 2 200 000 Einwohner in Oberschlesien
kaum 200 000 Evangelische und 19 000 Juden kommen, also nur etwa zehn Prozent Nichtkatholiken, sind in dem Heere
oberschlesischer Staats-, Kommunal- und Privatbeamten kaum zehn Prozent Katholiken vertreten, die nicht einmal aus
Oberschlesien stammen. Etwa dreiunddreißig Prozent der kommunalen Ehrenämter und fünfzig Prozent der
Handelsrichterstellen sind von Juden besetzt. Durch die Gewährung der berüchtigten Ostmarkenzulage an die Beamten und
die doppelte Anrechnung der in Oberschlesien zugebrachten Amtsjahre wurde den eingeborenen katholischen Oberschlesiern
noch eine weitere Schmach zugefügt. (Vgl. „Oberschlesische Zeitung“ Nr. 176 vom 9. VII. 19.) An die spitze
der oberschlesischen Kommission zur Friedenskonferenz wurde ausgerechnet der typische Vertreter des preußischen
Hakatismus, der frühere Oppelner Regierungspräsident v. Schwerin der mit Küster und Mädler das Unheil über
Oberschlesien heraufbeschworen hat, entsandt. Als Sachverständige wurden ihm sieben Protestanten, sechs Juden und nur fünf
Katholiken, darunter sehr wenige Oberschlesier, beigegeben. Da man die katholische Geistlichkeit, die in Oberschlesien
noch einen maßgebenden Einfluß ausübt, unmöglich übersehen konnte, wählte man als ihren Vertreter einen Pfarrer,
der schon längst jegliche Fühlungnahme mit dem oberschlesischen Volke verloren hat und als Vertreter von der
oberschlesischen Geistlichkeit nachdrücklichst abgelehnt worden ist. Doch selbst zu dieser Wahl hat sich die
oberschlesische Regierung erst nach großen Bedenken entschieden.
Die Diktatur Hörsings
Die Diktatur Hörsings hat dann vollends dazu beigetragen, dem oberschlesischen Volke den Rest des Vertrauens zur
preußischen Regierung zu rauben. Die von den offiziellen oberschlesischen Vertretern „diesen tiefgründigen
Kennern des oberschlesischen Volkes“, so heiß ersehnte Gewaltpolitik feiert ihre Triumphe. Der verschärfte
Belagerungszustand wird über Oberschlesien verhängt. Straßenverbote werden erlassen. Um 9 Uhr darf niemand mehr die
Straße betreten. Um ½ 9 Uhr müssen alle Lokale geschlossen sein. Ein besonderes Zensurgesetz wird aufgestellt.
Der sogenannte Grenzschutz überschwemmt Oberschlesien. Die Dragonaden beginnen. Um diese unerhörten Maßnahmen zu
rechtfertigen, werden unsinnige Gerüchte über die Zustände in Oberschlesien in die Welt gesetzt. Ausschreitungen
einzelner Vertreter werden der polnischen Bevölkerung zur Last gelegt und als Polenputsche und politische Unruhen
hingestellt. Die Spionagepsychose von 1914 wird von der Hochverräterpsychose von 1919 abgelöst. Zahlreiche
Verhaftungen der sogenannten großpolnischen Führer werden vorgenommen, um sie aus Mangel an Beweisen nach qualvoller
langer Haft wieder freizugeben. Dagegen lässt man verbrecherische Subjekte, die das menschliche Leben und die öffentliche
Sicherheit aufs schlimmste gefährdet haben und als Anstifter der von Zeit zu Zeit gleichsam auf höheren Wink
inszenierten Putsche sich betätigen, nach kurzer Haft wieder frei und duldet sie sogar in den Arbeiterräten.
Haussuchungen werden unter irgend einem Vorwande angeordnet. Niemand fühlt sich noch Herr im eigenen Hause. Zahlreiche
polnische Blätter werden eingestellt, das polnische Unterkommissariat wird gewaltsam aufgelöst, weil es für die
Rechte der unterdrückten Bevölkerung fruchtlos eintritt. Selbst deutschorientierte Oberschlesier werden Verdächtigungen
und Verfolgungen ausgesetzt. Die oberschlesische Zentrumspartei, welche die gerechten Interessen der Oberschlesier zu
verfechten sucht und Oberschlesien auf gütlichen Wege für Deutschland retten möchte, wird ähnlich wie in der
Kulturkampfzeit den schwärzesten Verdächtigungen ausgesetzt. Der oberschlesische Tyrann, der über eine größere
Macht verfügt als selbst der absolutistische Herrscher, umgibt sich außer dem Grenzschutz mit einem Heere von geheimen
Kriminalpolizisten, die ganz Oberschlesien mit ihrem Spitzelwesen überziehen und selbst vor dem intimsten Familienleben
nicht Halt machen. Jedes nicht günstige Wort über Hörsing und deine Maßnahmen kann schon verhängnisvoll werden.
Eine ungeheure Nervosität bemächtigt sich der durch den langen Krieg ausgehungerten und entnervten oberschlesischen
Bevölkerung, die trotz Lebensmittelangebote von Posen, weiter darben muß. Hunderte von Einwohnern flüchten nach
Polen, um ihre Freiheit und ihr Leben in Sicherheit zu bringen. In Oberschlesien selbst knirscht das Volk in ohnmächtiger
Wut unter dem Hörsingschen Joch. Hin und wieder flammt der Haß, von auswärtigen, meist Berliner Hetzern geschürt, in
kleinen wilden Streiks auf. Noch hält die geknechtete Arbeitermasse die Hoffnung auf die baldige Erlösung durch das
feindliche Besatzungsheer aufrecht. Als auch hier ein Monat nach dem anderen hoffnungslos verstreicht, bricht endlich
die Geduld des armen Volkes. Spontan wider den Willen ihrer Führer erheben sich in zahlreichen Orten des
oberschlesischen Industriebezirks die gequälten und verhetzten von preußischen Spitzeln unter der Maske polnischer
Freunde betörten Massen, überfallen den verhaßten Grenzschutz und bemächtigen sich der öffentlichen Gebäude. Die
polnische Regierung hat Beweise, daß hier von preußischer Seite absichtlich auf einen Aufruhr hingearbeitet wurde, um
dann um so rücksichtloser gegen das polnische Volk vorgehen zu können. Der unselige längst gefürchtete Bürgerkrieg
mit all seinen Schrecken und Grausamkeiten verschlingt Hunderte von Opfern. Kostbares, oberschlesisches Blut, das
bereits im Weltkrieg am reichlichsten vergossen wurde, fließt auf den Straßen und Feldern Oberschlesiens. Weitere
Opfer fordert das blutige Standrecht Hörsings, der nun unumschränkter Gewalthaber ist. „Die vollziehende Gewalt
geht auf den Militärbefehlshaber über. Wer mit der Waffe in der Hand betroffen wird, wird sofort ohne
Gerichtsverhandlung erschossen. Unter Waffen in der Hand ist jedes unbefugte Waffentragen zu verstehen…. Alle öffentlichen
Lokale sind um 8 ½ Uhr zu schließen. In der Zeit von 9 Uhr abends bis 4 Uhr morgens darf niemand ohne
polizeilichen Ausweis die Straße betreten… Allen gegen Lohn oder Gehalt beschäftigten Personen wird der Streik
verboten. Es ist daher insbesondere verboten, Aufforderung zur Arbeitseinstellung auf Grund von Beschlüssen und von der
Arbeit durch Zwang ferngehaltene Personen haben sich sofort zur Arbeitsstelle zu begeben.“ Hörsing, der früher
selbst die frühere Regierung bekämpft und gegen ihre Gewalttätigkeit geeifert hat, vergisst jetzt selbst, daß man
nicht mit Handgranaten und Maschinengewehren die Liebe des Volkes gewinnt, sondern nur noch mehr die Verbitterung schürt
und zu neuen Unruhen Anlaß gibt. Er erntet nun das, was er mit seinen Genossen jahrelang gesät hat, da die
Sozialdemokratie bestrebt war, mit allen Mitteln der Verhetzung der „rückständigen durch die Pfaffenherrschaft
verdummten“ oberschlesischen Bevölkerung ihre materialistisch-sozialistischen Ideen einzupfropfen. In
Oberschlesien ist buchstäblich in Erfüllung gegangen, was Sombart von dem heutigen Proletariat schreibt: Es ist gar
nicht zu sagen, welch ungeheuren, inneren Zusammenbruch es bedeutet muß, wenn aus diesem stumpfen, einförmigen
gualvollen Leben… der kindliche Glaube genommen wird, daß es gerade den Armseligen und Beladenen im ewigen Leben
doppelt gut ergehen wird. Es ist wie wenn das letzte Abendrot von den Kuppen der Berge verschwindet und die Welt nun im
stumpfen Dunkel der Nacht daliegt.“ Dumpfe Verzweiflung lagerte über Oberschlesien, im Blut suchte man alle
freiheitlichen Regungen zu ersticken; doch der Geist des endlich erwachten oberschlesischen Volkes läsßt sich nicht
zertreten. Nach der dunklen Nacht der Bitternisse und Leiden wird auch für das arme oberschlesische Volk der lichte Tag
der Freiheit und des Glückes kommen.
Th. Reginek
(I.Cz. dalyj bydzie juzas)