Kolo, das Laufrad
Bekanntlich macht Not erfinderisch und so war es auch bei uns in Ost Oberschlesien, wo
man kaum etwas zu kaufen bekam und wir vieles was wir brauchten aus West‑Oberschlesien, in meinem Fall aus Ratibor,
nach Rydultau über die Grenze schmuggeln mußten.
In den 20er Jahren gab es in meinem Heimatort Rydultau nur wenige Menschen die ein
Fahrrad besaßen. Unsere Väter und Brüder gingen zu Fuß auf die Gruben und in die Fabriken, nur die Arbeiter, die
weiter von der Grube entfernt wohnten, wie z. B. die aus Czernitz, Fischgrund, Bonschowietz usw. besaßen ein Fahrrad.
Das Auto war damals noch eine große Seltenheit. In Rydultau besaß nur der Ziegeleibesitzer Herzer ein Auto. Erst
einige Jahre später schaffte sich der Kolonialwarenhändler Larisch, der auf der Karlskolonie sein Geschäft hatte, ein
Auto an.
Für uns Kinder, die auch Fahrrad fahren wollten, war es unmöglich, ein solches zu
besitzen, nicht nur daß es zu teuer war, aber es gab auch in Ost‑Oberschlesien keine Fahrradfabriken. Um es den
Alten nachzumachen, griffen wir zur Selbsthilfe und bauten uns ein solches fahrendes Vehikel. Sobald wir einen
Fahrradrahmen mit Lenkstange ergattert hatten, den wir meistens beim Fahrradhändler Jendryschick auf der Bahnhofstraße
für einige Zloty bekamen, suchten wir nach zwei geeigneten Rädern. Gummibereifte Räder waren schwer zu erhalten und
so montierten wir an den Fahrradrahmen Räder von Kinderwagen, Schubkarren, Leitewagen usw. Es war gar nicht so einfach,
diese Räder in der Vorder - und Hinterachse der Fahrradgabel zu befestigen. Eine alte Lenkstange und ein Fahrradsattel
ließen sich auch noch auftreiben. Oft aber ersetzte ein Kissen oder eine zusammengefaltete Decke den Sattel. Am
Fahrradrahmen fehlte meistens das Zahnrad und die Pedale. Die selben ersetzten wir durch ein Stück Holz, welches wir
auf beiden Seiten des Rahmens aus der Zahnradöffnung heraus schauen ließen, diese dienten als Auflage für die Füße
beim Fahren. Bei dieser Konstruktion des Laufrades fehlten Bremse und Rücktritt. Aber fast jedes Fahrrad hatte eine
Fahrradglocke, welche wir recht fleißig bedienten, besonders dann, wenn die Fahrt bergab ging. Auf flacher Ebene
bewegte sich das Laufrad indem wir mit den Füßen immer wieder abstießen, nur bergab fuhr es allein.

Wir Kinder vom Fritzenhof waren in der glücklichen Lage, daß wir auf einer Anhöhe
wohnten, die zur Bahnhofstraße ein starkes Gefälle mit mehreren Kurven besaß, so mußten wir bei dem Haus von
Weidemann eine Linkskurve und bei dem Garten von Pluta eine scharfe Rechtskurve nehmen um auf die Bahnhofstraße zu
gelangen.
Die Fahrt bergabwärts mit ihren vielen Kurven war immer mit großen Gefahren verbunden,
denn wir hatten am Laufrad keine Bremsen und die Lenkung war starr und unbeholfen, so daß wir mit unserem Laufrad oft
in den Zäunen und Gärten landeten. Selbstverständlich hatten wir uns dabei so manche Schürfwunden an den Knien
zugetragen. Wir Kinder waren damals nicht so empfindlich gegen Verletzungen, denn trotz dieser fuhren wir immer wieder
mit dem Laufrad den Kapellenweg, so nannten wir die Strecke zwischen dem Fritzenhof und der Bahnhofstraße, die an der
Einmündung zur Bahnhofstraße eine schöne große Kapelle hatte, bergab.
Nicht so gefährlich war die Strecke zwischen dem Fritzenhof und der Lazarettstraße die
auf einer Ebene verlief. Wir nannten diesen Weg die Kastanienallee, denn sie war von beiden Seiten mit Kastanienbäumen
bepflanzt. Unermüdlich strampelten wir mit unserem Laufrad diese ebene Strecke ab und hatten unsere helle Freude daran.
Im Fritzenhof wohnten ca. 80 Kinder und fast jede Familie besaß so ein Laufrad, wir
kannten damals noch keine Unterschiede, die Kinder der Beamten und Arbeiter, der deutsch und oberschlesisch sprechenden
Familien, spielten immer miteinander und so wurden auch die Laufräder oft gemeinsam gebaut und wir tauschten so manches
Ersatzteil untereinander aus. Durch das Bauen dieser Laufräder wurden wir Kinder schon von frühester Jugend an zum
Denken, Basteln und zur Sparsamkeit erzogen.
Das viele Spielzeug, das unsere heutigen Kinder fertig aus den Kaufläden erhalten, kann
nie diese Fantasie und das Basteln ersetzen.
Dr Leopold Walla
Aus dem Buch "So lebten wir in Oberschlesien"
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