© Arnulf Hein - www.slonsk.de - 02/2001

  SLONSK

Jetzt sind neue Zeiten...

Schlesien heute 12/2000 Görlitz/Schlesien

Arnulf Hein

 

Was ist ein Soldatenfriedhof? Was ist eine Kriegsgräberstätte? Auf den ersten Blick wird jeder Leser seine Antwort schnell parat haben: Ein Soldatenfriedhof oder eine Kriegsgräberstätte sind Orte, an denen sterbliche Überreste gefallener Soldaten zusammengetragen und in einer würdigeren Umgebung in neuen Gräbern ihre letzte Ruhe finden. So jedenfalls denkt man sich das, wenn man in Erinnerung an den bei Stalingrad vermißten Großvater dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zu Weihnachten ein paar Mark überweist. Aber das ist offenbar ein zu anspruchsvoller Wunsch. Denn seit Mitte September ist vom Volksbund zu erfahren, daß auch zivile Opfer auf Soldatenfriedhöfe gehören, weil sie dort an einem Sammelort „besser betreut“ werden können, anstatt - und das ist jetzt der entscheidende Nachsatz: anstatt, wenn diese Ziviltoten über ganz Schlesien verstreut liegen. Die „Betreuungskosten“ seien einfach zu hoch, wenn Frauen, Kinder und Greise, die, nachdem die Front Anfang 1945 über sie hinweg gerollt war und das Donner der Geschütze schon in weiter Ferne lag, von Angehörigen der Roten Armee oder von polnischer Miliz in ihren Häusern, auf offener Straße, in Gefängnissen oder in „Aussiedlungslagern“ getötet wurden oder an Krankheiten starben - und seitdem in unzähligen Einzel- oder in Massengräbern verscharrt liegen. Gehören diese zivilen Opfer der Nachkriegszeit auf Soldatenfriedhöfe? Und überhaupt: Wann hat sich der Volksbund jemals für solche ostdeutschen Tote interessiert?

Im konkreten Fall geht es um ein Massengrab auf dem Friedhof an der Coseler Straße in Gleiwitz. In diesem lagen fast 500 Menschen, darunter wahrscheinlich einige Wehrmachtssoldaten (Kriegsgefangene?), überwiegend aber Frauen und Kinder und Alte, die die ersten Monate ihrer Befreiung in ihrer Heimatstadt nicht überlebten. Später, in den Fünfzigern, wurde das Massengrab dann noch einmal geöffnet. Seinerzeit genehmigte die Stadtregierung einer Steinmetzerei sich auf der Nekropholie niederzulassen, wofür allerdings eine heute unbekannte Anzahl von Gräbern planiert werden mußte. Die gefundenen sterblichen Überreste wurden sodann zu den Opfern von 1945 in das Massengrab umgebettet.

Der Friedhof ist stadtbekannt, auch weil hier im Schatten alter hoher Bäume französische Soldaten aus der Abstimmungszeit beerdigt liegen, die heute übrigens unter dem Schutz der Kirche stehen sollen. Jahrzehntelang, nicht erst seit 1989, brannten an Allerheiligen beim Massengrab und bei den restlichen deutschen Einzel- und Familiengräbern Kerzen, ein Hinweis darauf, daß die Einheimischen um der Bedeutung dieses Ortes wußten.

Gleich nach der politischen Wende ist von verschiedener deutscher Seite die Errichtung eines Denkmals für die 1945 Verstorbenen angeregt worden, jedoch ohne bei den Stadtoberen auf wirkliches Interesse zu stoßen. Jemand, der sich anfangs noch in dieser Geschichte engagiert hatte und über gute Kontakte zur Stadtregierung verfügte, und glaubte, daß sich nach 1990 in manchen Köpfen ein Wandel eingestellt hätte, zog sich alsbald zurück. Es sei alles ein Durcheinander gewesen. Mal wollten die ein Denkmal, dann wieder nicht. Zwischendurch versuchten sie, die Kirche mit einzubeziehen, aber die lehnten gleich ab, weil ihr die Tatsache des Massengrabes überhaupt nicht behagen wollte.

Ende Juni dieses Jahres entschloß sich dann die örtliche Minderheit, die Öffentlichkeit mit einer Zeitungsanzeige auf das Problem aufmerksam zu machen. Angehörige der Toten sollten sich melden, zwecks der Errichtung eines Gedenkkreuzes. Im August folgte der Gleiwitzer Kreis in Deutschland mit Aufrufen in der Vertriebenenpresse. So geschah es auch in der Augustausgabe dieser Zeitung. Mindestens zehn in Deutschland wohnende Gleiwitzer, von denen der Gleiwitzer Kreis weiß, schrieben an die Stadtverwaltung. Wohl zu spät. Als die Schreiben an der Klodnitz eintrafen, war der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge mit seiner polnischen Partnerorganisation „Pamiec“ seit Mitte September längst dabei, die sterblichen Überreste aus dem Massengrab in 492 Pappschachteln zu verpacken und für die Umbettung zum Kriegsgräberfriedhof in Siemannowitz vorzubereiten. Dort liegen sie heute, ohne Gedenktafel, ohne jeglichen Hinweis auf die zivilen Toten, von denen ein Teil bereits vor 1945 eines natürlichen Todes starb, deren Gräber jedoch in den Fünfzigern einem Handwerksbetrieb weichen mußten. Keine zweieinhalb Monate nach dem ersten Appell in der Gleiwitzer Lokalzeitung „Nowiny Gliwickie“. Das läßt erahnen, daß hier nur vordergründig nach einer moralischen und für alle Seiten annehmbaren Lösung gesucht worden ist.  Denn eine solche Entscheidung konnten die Stadtväter und der Volksbund nicht von heute auf morgen treffen, sondern bereits Wochen im voraus, beklagen sich dagebliebene Gleiwitzer, die von den Arbeiten erst aus der Presse erfuhren. 

Mitte Oktober waren die Arbeiten beendet, und es schien Gras über diese Sache zu wachsen. Bis zwei Journalisten nicht locker lassen wollten und am 10. November in der Kattowitzer Ausgabe der „Gazeta Wyborcza“ mehreren regionalen Persönlichkeiten die Gelegenheit gaben, Stellungnahmen abzugeben, die in einer solchen Schärfe unerwartet deutlich ausfielen. Der Kriegsgräberfriedhof Siemannowitz pferche die oberschlesische Vergangenheit „auf ein paar Hektar Grünland“ und er „verfälscht das Bild Oberschlesiens“, kritisiert der Krakauer Geschichtswissenschaftler Professor Jan Drabina das „skandalöse Vorgehen“. Jetzt sei eine weitere „historische Spur verwischt“. Izabelle Gutfeter, Sprecherin von „Pamiec“, die für den Volksbund vor Ort tätig ist, weiß diese Kritik überhaupt nicht nachzuvollziehen: „Wie soll man nach 50 Jahren die Überreste von zivilen und militärischen Opfern unterscheiden?“ Und die Sammelplätze in Polen seien gar keine Soldaten-, sondern Kriegsfriedhöfe, wohin auch zivile Tote gehörten.

Scharfer Tobak auch vom ansonsten zurückhaltenden polnisch-oberschlesischen Schriftsteller Stanislaw Bieniasz, der dem Volksbund gar mit seinem Ratschlag bedenkt, sich aus schlesischen Dingen zukünftig herauszuhalten. „Deutsche Gräber müssen gepflegt werden“, und das erst recht von den Kommunen, schließlich seien es „Zeugen der Geschichte“. Das alles habe was mit einem „genetischen Anti-Deutschtum“ zu tun, das aus den kommunistischen Zeiten in das Jetzt herübergerettet worden sei. „Eine Identität“, gibt Taddäus Schäpe, der Leiter des „Hauses für deutsch-polnische Zusammenarbeit“ in Gleiwitz, dabei zu bedenken, „kann nicht auf Lügen aufbauen.“ „Die deutschen Gräber müssen in Schlesien gesehen werden, sie müssen zu Diskussionen anregen. Aber sie werden einfach weggeschafft, weil es bequemer ist, wenn eine solche Provokation nicht existiert.“ Lediglich der Senator und Schlesische Kulturpreisträger des Landes Niedersachsen, Kazimierz Kutz, fand Worte des Wohlwollens.

Derweil gebären sich die Stadtväter gleich den drei berühmten Affen. Das alles sei nur ein Mißverständnis, versucht Vizepräsident Janusz Moszinski inzwischen zu beschwichtigen. Die Stadt sei angeblich von Anfang an gegen diese Umbettung gewesen; ja, man hätte die Opfer auch mit einem würdigen Gedenkstein ehren wollen; die Stadt hätte von sich aus auch gerne ein bißchen mehr Platz für das Grab zur Verfügung gestellt, aber die Kirche habe das eben nicht gewollt. Die Stadt im Rückzugsgefecht, und das nicht zum ersten Mal. In gewisser Weise hat die Stadt auch schon Übung darin, etwas einfach klammheimlich ins Werk zu setzen und dann, wenn das Werk vollbracht ist, den Rückzug anzutreten. Schließlich, in ein paar Tagen würde niemand mehr darüber sprechen, so die Theorie. Der Friedhof an der Coseler Straße stand bereits im Frühjahr 1998 in der Kritik. Damals errichtete die Stadt eine Schrotholzkirche, und die letzten alten Grabsteine sollte das Zeitliche segnen. Man hatte die aus dem 16. Jahrhundert stammende Kirche fünf Jahre zuvor auf dem Zentralfriedhof demontiert und wußte seitdem nicht wohin mit ihr. Schließlich schien die Lösung gefunden, als hätte es keinen besseren Platz für eine alte oberschlesische Schrotholzkirche gegeben.

Erst die Anrufe einiger Anwohner der benachbarten Hochhaussiedlung beim deutschen Sejmabgeordneten aus Gleiwitz, Professor Roman Kurzbauer, der schließlich protestierte, verhinderten, daß alle deutschen Grabsteine auf einer Mülldeponie landeten. In Leserbriefen zeigten sich die Einwohner bestürzt über das Vorgehen. Jene Denkmäler, die den Transport zum Müllplatz durch die beauftragte Abbruchfirma aus Wadowice bei Krakau heil überstanden, holte das Stadtbauamt zähneknirschend wieder zurück Nun weiß aber niemand, wo sie derzeit lagern. Wahrscheinlich sind sie letztendlich doch wieder zur Deponie verbracht worden. Damals war in der „Trybuna Slaska“ nachzulesen, was die Stadtverwaltung nicht alles versucht habe. So berichtete der Sprecher des Stadtpräsidenten, Krzysztof Semik, dem Journalisten, daß „die Stadt seit 1990 nach einer Lösung gesucht hat“. „Wir wollten sie verkaufen und verarbeiten“, aber die Qualität der Steine habe nicht für Bürgersteine gereicht. Deshalb habe sich kein Käufer gefunden. Auf die Erklärung der Zeitung, daß „es schockierend ist, daß der Verwaltung nichts anderes eingefallen ist, als die Grabsteine zu zerstören“, entgegnete Semik lapidar, daß deutsche Grabsteine nicht unter Denkmalschutz stünden und deshalb auch keine Kulturgüter darstellten.

Ortswechsel: Breslau. Breslau ist schön, kosmopolitisch, weltoffen, europäisch... Ein Jahrzehnt lang war Beata Maciejewska, eine Mitarbeiterin der Breslauer „Gazeta Wyborcza“, auf der Suche nach den Überresten des letzten deutsch-christlichen Begräbnisplatzes auf dem Breslauer Stadtgebiet in Oswitz. Mit dem letzten Lebenshauch der Kommunisten ist dieser Ort des Erinnerns noch platt gemacht worden. Man habe den Ort „rekultiviert“, wie das heute heißt.

Sie habe sich noch gut an die vielen Grabsteine erinnern können, schreibt Maciejewska in der Ausgabe vom 10. November, bis plötzlich alles weg war. Heute weiß sie, daß die Bauarbeiter beim „Umpflügen“ des Friedhofes einen gehörigen Spaß damit hatten, gefundene Schädel und Skeletteile an den Bäumen aufzuhängen, wo sie dann von Medizinstudenten für den eigenen universitären Gebrauch entdeckt wurden. Aber noch mehr hat sie bei ihren Nachforschungen in Erfahrung bringen können, etwa daß 1989 die Stadt einer Steinhauerei die Grabsteine übereignete, und zwar mit der Bedingung, mit dem Granit, Marmor und Sandstein nur öffentliche Aufträge auszuführen, woran sich die Eigentümerin auch penibel hielt. Seitdem schneidet sie je nach angemeldeten Bedarf für die Stadt die Grabplatten in die gewünschte Größen zu und bearbeitet sie, will heißen, sie schleift die beschriebenen Seiten glatt und poliert sie. So sind bei der Restaurierung des Rathauses ebenso deutsche Grabsteine als neue Bodenplatten im historischen Bürgersaal verwendet worden wie bei der Renovierung eines Hauses in der Hardenbergstraße, wo heute das Amt für Sozialversicherungen (ZUS) residiert. Hier reichten die Grabplatten für eine Treppe und den Empfangsbereich. Auch die „Gesellschaft der Liebhaber Breslaus“ bediente sich der Steine für ein Denkmal. „Die Tatsache“, schreibt ein Zeitungsleser Tage nach der Veröffentlichung, „daß das nach 1989 passiert ist, schockiert.“

„Was kann man in Breslau aus deutschen Grabdenkmälern alles machen?“, fragt die „Gazeta Wyborcza“ nicht ohne Ironie, schließlich lägen auf dem städtischen Bauhof in Mirkau noch „einige tausend Grabsteine“ aus Oswitz. Bei dieser Frage kommt Marek Szczesny, Direktor der Kommunalfriedhöfe, schnell und mit ganzem Ernst zur Sache: „Man soll aus den Grabsteinen Pflastersteine und Bürgersteigkanten machen, und dann billiger verkaufen, als es der Steinbruch in Strehlen verkaufen kann. Es wird sich verkaufen lassen, und wir sind das Problem los.“ Für den Sprecher des Stadtrates, Krzysztof Grzelczyk, handelt es sich in Mirkau um „Halden zerschlagener Steine“, mit denen nicht mehr viel anzufangen sei, was die Zeitung jedoch so nicht stehen lassen will: Die Gedenksteine seien tatsächlich „erstaunlich gut erhalten“. So wird in der „Gazeta Wyborcza“ vom 17. November die Verwaltung aufgefordert, ein „symbolisches Museum für deutsche Friedhöfe“ zu bauen, wo alle deutschen Grabsteine aufgestellt werden könnten. „Wir sind das allen denen schuldig, deren Gräber geschändet worden sind, wir sind es Deutschland, Europa und uns selbst schuldig.“  

„Der Breslauer Fall ist im Grunde genommen eine ‘Norm’“, kommentiert Andrzej Pochowaj die Vorgänge in der Stadt. In Liegnitz beispielsweise habe er ernüchternd feststellen müssen, daß die Mauer des Kommunalfriedhofes aus Steinen vom deutsch-jüdischen Friedhof errichtet worden sei. Und daß in Breslau dieser Tage auf einem alten Begräbnisplatz eine Tankstelle gebaut werden darf, daß die Stadtverwaltung überhaupt eine Baugenehmigung erteilte, gleichwohl die Lage des Friedhofes bekannt war und einige Anwohner bei Baubeginn die Verwaltung schriftlich mehrmals darüber informierten (Sh 11/2000, S.6), werfe kein gutes Licht auf Bemühungen, die Stadtverwaltung zu mehr Sensibilität zu drängen.

Fast auf halben Weg zwischen Breslau und Gleiwitz liegt die kleine verschlafene Ortschaft  Mangschütz. Ursprünglich niederschlesisch, gehört sie heute wie der gesamte Kreis Brieg zur Woiwodschaft Oppeln. Im Frühjahr des vergangenen Jahres rief ein Dorfbewohner die Redaktion der „Nowa Trybuna Opolska“ um Hilfe, die auch sofort eine Redakteurin nach Mangschütz schickte, um dort nach dem Rechten zu sehen. Hinter der Friedhofsmauer, bei einem Gebüsch, lagen Dutzende von  Grabsteinen, christliche wie jüdische. Sie waren frisch herausgerissen, wahllos übereinander geworfen, so daß ein Teil der Platten auseinanderbrach. „Aufräumen im Namen der öffentlichen Ordnung“, wurde das genannt. Und die Einwohner waren weit davon entfernt, gegen das „Aufräumen“ etwas einzuwenden. Ganz im Gegenteil, zitiert die Redakteurin Ewa Kosowska-Korniak eine ältere Dame: „Es ist doch sehr gut, daß der neue Pfarrer endlich damit angefangen hat.“ „Und alle kommen da helfen. Alle arbeiten ehrenamtlich. Manche deutsche Grabsteine waren ja vielleicht schön. Aber jetzt sind neue Zeiten.“ Darauf angesprochen, daß das wohl nicht wahr sein dürfe, was da hinter dem Gebüsch herumliegt, versuchte Pfarrer Antoni Akincza die Journalistin zu beruhigen. Er habe das gemacht, um die Grabsteine zu retten; sie würden bald wieder aufgestellt. Ob die Einwohner bei ihrem ehrenamtlichen Elan davon bereits wußten? Jacek Kucharzewski, Oppelns oberster Konservator, fühlte sich jedenfalls nicht zuständig, einzuschreiten, da für die Zerstörung deutscher Gräber und Grabsteine keine Genehmigung erteilt werden müsse. Eigentlich stehe keiner der alten christlich-deutschen Friedhöfe unter Denkmalschutz, so sei das vor vierzig Jahren nun einmal bestimmt worden. Erhaltenswürdig seien demnach lediglich alte Steine mit polnischen Grabinschriften, Gräber von Personen, die an nationalen Erhebungen teilgenommen hätten, und Denkmäler von hohem kunstgeschichtlichen Wert. - Jedenfalls sah es im September 1999 noch nicht danach aus, als habe überhaupt jemand Interesse am Geschehen oder am Schicksal der Grabmäler in Mangschütz. Und bis heute biete der Friedhof mit den „kreuz und quer“ abgelegten Grabsteinen einen „trostlosen Anblick“, schreibt ein Heimatbesucher in der letzten Oktober-Ausgabe der „Briegischen Briefe“.

Gleiwitz, Breslau, Mangschütz. Diese kurze Liste könnte fortgeführt werden, beispielsweise mit Königlich Neudorf bei Oppeln, mit dem Rektor der Universität Oppeln, der Grabsteine wie Gartenzwerge sammelt und diese mit studentischen Hilfskräften in seinem Hintergarten aufstellt, oder mit Stroschwitz (Strassendorf) bei Löwen. Bedenkenswert ist auch die Phantasie der städtischen Bürokraten und Politiker, die zuerst an Gehwegplatten, Pflastersteine und Geld denken, wenn sie nach dem  Schicksal deutscher Gräber befragt werden. Daß niemand auf die Idee kommt, ein Lapidarium zu errichten oder einem Massengrab einen würdigen Rahmen des Gedenkens zu verleihen, läßt in mancher Hinsicht Zweifel aufkommen. Warum aber bleiben deutsche Stellen untätig? Ein penibel gepflegtes Lassalle-Grab sollte selbst korrekten deutschen Befindlichkeiten zu wenig sein. Sind die deutsch-polnischen Beziehungen rundweg auf Pragmatismus gewachsen? Geheimnisse der politischen Rituale gar?

Im Fall Gleiwitz wollen jetzt Henryk Kroll und Dietmar Brehmer, die sich bislang spinnefeind  waren, gemeinsam in Berlin vorstellig werden und intervenieren. Brehmer lägen weitere Hinweise darüber vor, daß Volksbund und dessen polnischer Partner „Pamiec“ weitere Ziviltote nach Siemannowitz umbetten wollen. Vor allem Kroll zeigte sich in der „Gazeta Wyborcza“ über das Vorgehen seitens des Volksbundes ungehalten. Seit Jahren bestehe eine Vereinbarung zwischen der Minderheit und dem Volksbund, wonach auf dem Gebiet der deutschen Minderheit in Oberschlesien und im südlichen Ostpreußen weder Soldatengräber noch zivile in das Umbettungsprogramm aufgenommen werden dürfen.

Zu fragen ist auch, ob der sakrilegische Umgang mit Gräbern und Denkmälern vielerorts überhaupt straffrei bleiben darf. Schließlich hat der Sejm den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag ratifiziert, und dort heißt es in Artikel 32 (2) ausdrücklich, „daß deutsche Gräber...geachtet werden und ihre Pflege ermöglicht“ werden muß. Aber was nützt der „Schutz durch polnische Gesetze“, wenn ein solcher gesetzlicher Schutz für deutsche Gräber gar nicht existiert? Letztendlich ist aber alles auch eine Frage der Moral, der Wertvorstellungen, der Achtung vor dem Anderen - vor allem aber ist es eine Frage des Wollens.

In der Mitte Europas, wo zwischen 1939 bis Anfang der 1950er so viele Verwerfungen stattfanden, Bevölkerungen getötet und verschoben oder ausgetauscht wurden, sind die alten Friedhöfe mehr als nur zugewachsene Schandflecken im Stadtbild polnischer Städte und Dörfer. Sie sind Gedenkstätten, Stätten der Geschichte. Sie sind unantastbar, weil sie Zeugen einer untergegangenen Welt sind. Polens Weg in den Westen führt nicht nur über die schmalen Stege schöner Worte.  


Schlesien heute 12/2000 Görlitz/Schlesien
Redaktion: Schlesien heute, Brüderstraße 13, 02826 Görlitz/Schlesien
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